Welche Perspektiven bietet Europa für die Onkologie?
Brennpunkt Onkologie vom 16.05.2019: Welche Perspektiven bietet Europa für die Onkologie?
Einleitung
Beim Brennpunkt Onkologie gaben Referentinnen und Referenten Einblicke, wie sich die EU im Bereich Krebs engagiert und was Joint Actions sind, berichteten über die Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten und erläuterten die (Aus‐)Wirkungen und Ergebnisse der Joint Action aus verschiedenen Perspektiven (nationalstaatlich, supranational und als Durchführer). Welche Ziele haben die onkologischen Joint Actions? Welchen Mehrwert und welche Impulse geben Joint Actions? Wie sieht es mit der Nachhaltigkeit aus? Was sind mögliche Zukunftsvisionen?
PD Dr. Simone Wesselmann: "Die deutsche Realität in der onkologischen Versorgung ist nicht die Realität in vielen anderen Staaten. Deshalb sind EU-Projekte so wichtig."
PD Dr. Simone Wesselmann, Bereichsleiterin Zertifizierung in der DKG, gab in ihrem Vortrag "Der Nationale Krebsplan und die Initiativen zur Krebsbekämpfung auf EU‐Ebene" einen komprimierten Überblick, wie sich die EU im Bereich Krebsbekämpfung engagiert. "Wir haben es in Europa mit verschiedenen nationalen Gesundheitssystemen zu tun, mit völlig anderen Ausgangspunkten, Strukturen und Qualitätsniveaus von Land zu Land. Die europäischen Aktivitäten dienen dazu, die Qualität bei der Versorgung von Krebspatienten in allen Mitgliedsstaaten schrittweise anzugleichen, schrittweise Standards zu setzen auf einem hohen Niveau, Best-Practice für Gesundheitssysteme vorzustellen und Hilfe zu geben, sie im eigenen nationalen Gesundheitssystem zu implementieren. Nachhaltigkeit und Implementierung – das sind die Ziele, die wir uns in den europäischen Projekten eingeimpft haben. Startpunkt für das Thema Krebs in der EU war 1985 das Programm Europe against Cancer mit drei aufeinander aufbauenden Aktionsplänen. Themen waren Prävention, Screening, Qualitätssicherung der onkologischen Versorgung, Studienförderung sowie Aus- und Weiterbildung des medizinischen Personals. Daraus sind sehr viele unterschiedliche Maßnahmen hervorgegangen. Das vielleicht wichtigste Ergebnis: der European Code against Cancer von 1987 mit 12 Empfehlungen, die gut in jeden Nationalstaat übertragbar sind und dem Grundgedanken folgen, dass viele Krebserkrankungen vermeidbar sind. Daraus sind später Initiativen zum Tabakwerbeverbot und zum Verbot von Solarien erwachsen. 2003 haben die Council Recommendations on Cancer Screening allen Mitgliedsstaaten organisierte Krebsfrüherkennungsprogramme empfohlen. Inzwischen laufen für Brustkrebs in 25 Staaten, für Zervixkarzinome in 22 Staaten und für Darmkrebs in 23 Staaten organisierte Screeningprogramme oder sind geplant. In Deutschland ermöglichte das Krebsfrüherkennungs- und -registergesetz flächendeckende Screeningprogramme von Darm- und Gebärmutterhalskrebs. Schon diese wenigen Beispiele zeigen, wie eng EU-Projekte mit nationaler Politik in Verbindung stehen.
Die European Partnership for Actions against Cancer - EPAC im Jahr 2008 war der nächste große Schritt mit dem Ziel, die Krebsneuerkrankungsrate in der EU um 15 Prozent bis 2020 zu senken. Dieses sehr ambitionierte Ziel sollte erreicht werden, indem alle Mitgliedsstaaten bis 2013 über integrierte Krebsbekämpfungspläne verfügen – 31 der 33 teilnehmenden Staaten haben mithilfe des European Guide to National Cancer Control Programs inzwischen solche nationalen Pläne initiiert – Deutschland 2008 den Nationalen Krebsplan. Zweites wichtiges Ergebnis ist das European Cancer Information Systems - ECIS, mit dem epidemiologische krebsbezogene Daten veröffentlicht werden. Und das dritte Ergebnis von EPAC: das Instrument Joint Actions. Mit diesem Instrument sollten Strategien und Prozesse für die Krebsbekämpfung gemeinsam erarbeitet werden. Damit war die Krebsbekämpfung ganz oben auf der politischen Agenda der EU angekommen. Von 2011 bis 2014 hat EPAC die Ergebnisse in der ersten Joint Action verstetigt. Nahtlos daran angeschlossen hat sich die Cancer Control Joint Action – CanCon von 2014 bis 2017 – mit dem Ergebnis einer praktischen Hilfestellung European Guide and Quality Improvement and Comprehensive Cancer Control für Politik und Administration in den einzelnen Ländern zu den Themen Krebsversorgung, Survivorship, Rehabilitation und Screening. Das war auch die erste Joint Action, an der die Krebsgesellschaft aktiv beteiligt war. Die aktuelle Joint Action Innovative Partnership for Action against Cancer – iPAAC läuft bis 2021 und hat zehn Arbeitspakete und erstmals ein eigenes Gremium für Vertreter nationaler Gesundheitsministerien – der direkte Link zu den nationalen Regierungen. Das Ziel von iPAAC ist die Erstellung einer Roadmap on Implementation of the Sustainability of Cancer Control Actions. Parallel gibt es seit 2016 die Joint Action on Rare Cancer – JARC. Gerade die seltenen Tumorerkrankungen profitieren enorm von der Zusammenarbeit von Experten über Ländergrenzen hinweg.
Das waren die wichtigsten Meilensteine der Krebsbekämpfung auf EU-Ebene. In Deutschland ist vieles an Empfehlungen bereits umgesetzt, wir gehören zu den Vorreitern. Die deutsche Realität ist allerdings nicht die Realität in vielen anderen Staaten. Wir stellen gern unsere Erfahrungen und Lösungen, zum Beispiel aus dem Zertifizierungssystem und dem Leitlinienprogramm, als System-Best-Practice für andere zur Verfügung. Deshalb sind EU-Projekte so wichtig."
Peggy Richter: "Die grundlegenden Ziele bei iPAAC sind: Implementierung und Synergien."
Peggy Richter, Wirtschaftsinformatikerin mit Schwerpunkt Systementwicklung an der TU Dresden, erläuterte in ihrem Vortrag "Governance of Comprehensive Cancer Care" die aktuelle Joint Action „Innovative Partnership for Action against Cancer – iPAAC" und dabei insbesondere das Arbeitspaket 10: "iPAAC besteht aus 44 Organisationen aus 24 Mitgliedsstaaten. Hauptkoordinator der Joint Action ist Slowenien, das National Health Institute. Für Deutschland ist das Bundesministerium für Gesundheit der Konsortialführer. Wir haben neben 11 assoziierten Partnern vier Kooperationspartner im Arbeitspaket 10 des Projektes: die Deutsche Krebsgesellschaft, das Deutsche Krebsforschungszentrum mit dem Krebsinformationsdienst, die Universität Köln und die Technische Universität Dresden. Die Joint Action ist in zehn Arbeitspakete aufgeteilt. Die ersten vier Arbeitspakete sind mit den Disseminationen, Evaluationen und Integrationen in nationale Politik beschäftigt. Die Arbeitspakete 5 bis 10 sind inhaltliche Arbeitspakete. Es geht um Prävention und Krebsversorgung ebenso wie um ganz neue Themen: Genomics oder innovative Therapien im Bereich Krebs am Beispiel der CAR-T-Cells. IPAAC wird über 36 Monate von der EU mit 4,5 Millionen Euro gefördert. Das ist das bisher höchste Fördervolumen an einer Joint Action im Bereich Krebs.
Im Arbeitspaket 10 dreht sich alles um Comprehensive Cancer Care Networks (CCCN), bestehend aus einem Onkologischen Spitzenzentrum in der Mitte, was alle Accesspoints und andere Leistungserbringer um sich herum vereint, und zwar über die gesamte Versorgungskette von Krebspatienten und -patientinnen hinweg. CCCNs sind die konzeptionelle Basis. Wir entwickeln praktische Instrumente – tumorspezifische, aber auch generisch anwendbare –, um eine standardisierte Versorgung in einem CCCN zu ermöglichen und dann in den nationalen Krebsplänen zu verankern. Stichworte sind unter anderem Patientenpfade, Qualitätsindikatoren und Patient-reported Outcomes sowie deren Implementierung als Standards in CCCNs. Alle Ergebnisse werden in eine Roadmap einfließen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wird. In ihr werden einseitige Dokumente zu den entwickelten Instrumentarien und deren methodischer Umsetzung, vielleicht auch mit einem konkreten Hinweis auf ein Anwendungstool, bereitgestellt. Implementierung ist bei iPAAC das A und O. Es geht wirklich darum, praktisch anwendbare Instrumentarien zu schaffen, die die EU-Mitgliedsstaaten verwenden können, um CCCNs aufzubauen. Am Ende der Projektlaufzeit werden wir die Instrumentarien in zwei Pilotregionen testen: an der Charité Berlin und Breslau/Polen. Gibt es Qualitätsverbesserungen durch Anwendung dieser Instrumente? Die Ergebnisse dieser Pilotverfahren werden wiederum in die Roadmap einfließen. Ein weiteres magisches Wort bei iPAAC ist Synergie: zwischen den Arbeitspaketen, den einzelnen Mitgliedsstaaten und auch zwischen den einzelnen Aufgabenbereichen in jedem Arbeitspaket. Wir arbeiten gemeinsam an etwas Großem."
Dr. Susanne Weg-Remers: "Der wichtigste Aspekt im iPAAC-Arbeitspaket 5 ist die Heterogenität der EU-Mitgliedsländer bei Krebsprävention und Früherkennung – die wollen wir minimieren."
Dr. Susanne Weg‐Remers, Leiterin des Krebsinformationsdienstes beim DKFZ Heidelberg und deutsche Vertreterin im Arbeitspaket 5 bei iPAAC, sprach zum Thema "iPAAC Work Package 5 Cancer Prevention": "Arbeitspaket 5 umfasst drei zentrale Aufgaben: Es geht zum einen um neue Strategien für die frühe Diagnose von Krebs, vor allem bei den Krebsarten, für die es kein evidenzbasiertes Früherkennungsprogramm gibt. Zweitens geht es um effektive Screeningprogramme für die Bevölkerung europäischer Länder. Und drittens geht es um evidenzbasierte Primärprävention, also um die Implementierung des European Code against Cancer. Der wichtigste Aspekt in diesem Arbeitspaket ist die Heterogenität der EU-Mitgliedsländer. Ziel ist es deshalb, Instrumente zu schaffen, diese Ungleichheit zu verringern. Durchgeführt wird das Arbeitspaket 5 von 23 Mitgliedern aus verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten, koordiniert von der finnischen Krebsgesellschaft.
Das deutsche Projekt im Arbeitspaket 5 'Improvement of Health Literacy on Genetics and risk-adjusted Prevention for Breast Cancer through Information Services'. Ziel ist es, die Gesundheitskompetenz - englisch: health literacy - durch die Vermittlung von gesundheitsbezogenen Informationen zu Krebs europaweit zu fördern. Gesundheitskompetenz beruht auf grundlegenden Fähigkeiten und Kenntnissen wie der Alphabetisierung, dem Zahlenverständnis sowie dem Grundlagenwissen über die Gesundheit und das jeweilige Gesundheitssystem. Hinzu kommt die Bereitschaft, Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen – verbunden mit der Fähigkeit, Krebsinformationen zu finden, zu bewerten und auf die eigene Situation anzuwenden. In dem Projekt arbeiten wir mit dem Deutschen Konsortium für familiären Brust- und Eierstockkrebs zusammen. Anhand des hoch komplexen Themas 'familiärer Brust- und Eierstockkrebs' realisieren wir gemeinsam ein Modellprojekt, mit dem die Gesundheitskompetenz von Betroffenen gestärkt werden kann. Hierfür werden wir prototypische Informationsmaterialien in einfacher Sprache entwickelt und testen: zum einen für Patientinnen und ihre Blutsverwandten, die ein Risiko haben, die entsprechende Mutation geerbt zu haben, zum anderen für Menschen, bei denen nach einer genetischen Testung eine Risikomutation festgestellt wurde. Wichtig ist uns aber auch die Ärzteschaft. Die komplexe Materie wollen wir dieser Zielgruppe mit speziellem Schulungsmaterialien und E-Learning-Modulen vermitteln."
Podiumsdiskussion
An der abschließenden Podiumsdiskussion nahm neben den Referentinnen und Referenten auch Prof. Dr. Dirk Arnold, Executive Board Member der European Society for Medical Oncology (ESMO), teil. Es herrschte Einigkeit über den positiven Effekt und Sinn europäischer Initiativen in der Krebsbekämpfung seit Beginn des Engagements in den 80er Jahren bis zur aktuellen Joint Action iPAAC. Eine Schlüsselaufgabe – bereits heute, aber auch in Zukunft – sei die Implementierung. Dabei müsse künftig viel stärker auf den Status quo der einzelnen Gesundheitssysteme eingegangen werden, und zwar mit maßgeschneiderten individuellen Lösungen, die die einzelnen Regierungen gezielt dabei unterstützten, die Krebsbekämpfung zu verbessern. Ebenso wichtig sei die Evaluation der Ergebnisse und Effekte. Bei aller Heterogenität sei man optimistisch, dass in den kommenden zehn Jahren wichtige Schritte gelingen werden, ein gleiches Verständnis für die Frage zu bekommen: Wie sollen Krebsbetroffene in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union behandelt werden – von der Prävention, Früherkennung, Diagnose, Therapie bis hin zur Nachsorge beziehungsweise Palliation. Ziel sei es, mit Unterstützung über die EU-Kommission und durch Unterstützung europäischer Arbeit für die Patientinnen und Patienten europaweit einheitliche Strukturen und Standards für die Versorgung zu schaffen. Die politischen Rahmenbedingungen und der Erfolgswille auf vielen Seiten sei derzeit eine hervorragende Grundlage, um dieses Ziel mit Mut anzugehen.
Präsentationen zum Herunterladen
Referent*innen
- Prof. Dr. Dirk Arnold, Asklepios Tumorzentrum Hamburg, AK Altona, ESMO Executive Board Member
- Dr. Johannes Bruns, Generalsekretär Deutsche Krebsgesellschaft
- Peggy Richter, M.SC., wiss. Mitarbeiterin, Nachwuchsforschergruppe Care4Saxony, iPAAC (Arbeitspaket 10), TU Dresden
- Dr. Stefan Schreck, Leiter der Abteilung Health Programme and Chronic Diseases, DG Sante, Europäische Kommission
- Dr. Susanne Weg‐Remers, Leitung des Krebsinformationsdienstes, Heidelberg; deutsche Vertreterin im Arbeitspaket 5 bei iPAAC
- PD Dr. Simone Wesselmann, Bereichsleitung Zertifizierung DKG und Leiterin des Arbeitspakets 10 bei iPAAC
- Moderation: Lisa Braun (Presseagentur Gesundheit)