Langzeitüberleben - oder: Wie lange ist ein Patient ein Patient?
Brennpunkt Onkologie vom 16.09.2015: Langzeitüberlebende nach Krebs – oder: Wie lange ist ein Patient ein Patient?
Wer im Durchschnitt fünf Jahre nach einer erfolgreichen Krebstherapie rückfallfrei lebt, gilt als geheilt. Die Medizin bzw. das Gesundheitswesen spricht von Langzeitüberlebenden oder Cancer Survivors. Aber sind diese Menschen tatsächlich geheilt? Sind sie gesund? Und wenn ja: Welche Definition von Gesundheit und Krankheit bildet hier den Maßstab – auch im sozialrechtlichen Sinn? Zunehmend verweisen Mediziner darauf, dass ein Teil der Langzeitüberlebenden stärker als bisher angenommen unter den Folgen einer Krebsbehandlung leidet, beispielsweise durch Spätschäden, Gesundheitsprobleme, nicht-medizinische Probleme oder gar durch therapiebedingte Zweittumoren. Das macht es notwendig, die mittel- und langfristigen Konsequenzen einer Krebserkrankung bzw. ‑behandlung stärker in den Blick zu nehmen. Auf der anderen Seite sehen sich viele Betroffene, bei denen kein Rückfall diagnostiziert wird, noch lange als Patient, obwohl sie das im sozialrechtlichen Sinn vielleicht gar nicht mehr sind. Im Brennpunkt Onkologie „Langzeitüberlebende nach Krebs - oder: Wie lange ist ein Patient ein Patient?“ am 16. September 2015 haben wir das Thema Langzeitüberleben aus gesundheitspolitischen, medizinischen, sozialen und persönlichen Perspektiven beleuchtet. Fünf Referentinnen und viele Beiträge aus dem Publikum verdeutlichten den Status quo und den Handlungsbedarf. So entstand am Ende der Veranstaltung ein Forderungskatalog, den wir weiter bearbeiten und adressieren wollen. Im September 2016 planen wir eine Folgeveranstaltung zum Thema.
Prof. Dr. Annelie Keil: „Die Medizin versteht viel von der Krankheit; von kranken Menschen versteht sie nichts. Das ist nicht ihr Gebiet.“
Die Diskussionsveranstaltung begann mit einem Videobeitrag zum Thema „Wann ist der Patient ein Patient? Leben zwischen Krankheit und Gesundheit. Gedanken aus der Gesundheitswissenschaft“ mit Prof. Dr. Annelie Keil, Soziologin aus Bremen und Langzeitüberlebende.
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Video-Interview.mp4
Marie Rösler: „Das betriebliche Eingliederungsmanagement BEM gibt es seit vielen Jahren. Ich habe das Gefühl, keiner wendet es an.“
Für Betroffene sei es wichtig, sich mit der überstandenen Krebserkrankung wieder dem Leben zuzuwenden, sagte Marie Rösler von der Bremer Krebsgesellschaft in ihrem Vortrag „Krankenversicherung? Rentenversicherung? Versorgungsamt? Wer ist wann zuständig?“. Oft gebe es aber Beeinträchtigungen, wenn Langzeitfolgen der Erkrankung oder der Behandlung blieben. Außerdem könne die Erkrankung noch Jahre später wirtschaftliche und soziale Probleme nach sich ziehen. An einem reellen Beispiel Frau A. beschrieb Marie Rösler die behördlichen Zuständigkeiten. Sichtbar wurden dabei die kaum durchschaubare Komplexität des Systems, die Lücken des Systems und die Notwendigkeit, Leistungen der Sozialleistungsträger an die Weiterentwicklungen in der Onkologie anzupassen.
Die bürokratischen und administrativen Anforderungen an Betroffene, mögliche Unterstützung, Leistungen und Hilfe zu beantragen und zu erhalten, seien enorm, so Marie Rösler. Zwischen Schwerbehindertenausweis, Reha, sozialmedizinische Gutachten, Wiedereingliederung, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Haushaltshilfe, Übergangsgeld wechselten die Zuständigkeiten oder es existierten geteilte Zuständigkeiten, einschließlich bestimmter Antragsfristen. In diesem Dschungel leiste eine Krebsberatungsstelle, von denen es in Deutschland über 100 gäbe, große Dienste.
Ausführlich ging Marie Rösler auf die Zuständigkeit der Arbeitgeber bzw. das berufliche Eingliederungsmanagement BEM ein: „Das BEM gibt es seit vielen Jahren. Ich habe das Gefühl, keiner wendet es an, nur in richtig gut organisierten großen Firmen läuft es. Bei einem Menschen, der länger als sechs Wochen krank ist, ist der Arbeitgeber gefordert, ein betriebliches Eingliederungsmanagement durchzuführen. Das heißt: Mit dem Betroffenen wird ein Gespräch geführt, wie der Wiedereinstieg ins Berufsleben langfristig möglich sein kann. Das ist eine Chance für beide Seiten.“ Sie erlebe aber, dass die Gesellschaft in Bezug auf Spätfolgen wenig zur Unterstützung bereit sei: „Der Zeitgeist heute heißt: Jeder ist seines Glückes Schmied. Wer sich nicht gesund ernährt, hat selbst Schuld. Es ist alles machbar, alles geht. Und wer auf dem Arbeitsmarkt die Leistung nicht bringt, die gebraucht wird, fliegt. Und hinzu kommt zum Beispiel bei Fatigue: Man sieht gesund aus, ja, was willst du dann eigentlich? Du hast es doch überstanden, und nun muss doch auch mal gut sein. Und jetzt bitte wieder durchstarten. Das Mitmenschlichkeitskonto ist irgendwann aufgebraucht, das spüren viele ziemlich hart auf der Arbeitsstelle.“
Sabine Schreiber: „Wir möchten, dass sich alle Krebsüberlebenden wieder als wertvollen Teil der Gesellschaft sehen.“
„Die gute Nachricht ist, dass es immer mehr Krebsüberlebende gibt“, so Sabine Schreiber, von Leben nach Krebs! e.V., einer Selbsthilfegruppe für junge Krebsüberlebende in Berlin. „Allerdings ist die Nachsorge darauf noch nicht eingestellt. Und einige der Langzeitfolgen wie die Fatigue sind leider nicht so bekannt, wie sie eigentlich sein sollten. Auch die Ärzteschaft ist schlecht über die Fatigue nach Krebs aufgeklärt. Man hat immer den Eindruck, dass dieses diffuse Bild der Erschöpfung, der Fatigue nach Krebs, für sie schwer nachvollziehbar ist.“ Als Krebspatientin sei sie selbst nicht ausreichend über mögliche Spätfolgen informiert worden. Hilfreich wäre in Deutschland zum Beispiel eine Online-Datenbank nach Vorbild des amerikanische Survivors Care Plan, bei dem man nach Eingabe seiner Diagnose und der Medikamente Informationen bekäme, welche Spätfolgen möglich seien und wer der Ansprechpartner dafür sei.
Die Spätfolgen bei Sabine Schreiber, unter anderem in Form einer schweren Fatigue, begannen ein Jahr nach Behandlungsende, als sie bereits wieder im Berufsleben stand. Während Betroffene in einer Akutbehandlung minutiös beobachtet und Ergebnisse protokolliert werden, so Sabine Schreiber, stehe man mit Spätfolgen ganz allein da. Man sei aufs Neue traumatisiert, während das Umfeld denke, man sei geheilt. Sabine Schreiber: „Je länger die Krebstherapie hinter einem liegt, desto schwieriger wird es, die Herausforderungen und die Hilfsbedürftigkeit nach der Therapie selbst anzunehmen und nach außen erklären zu müssen. Die Gesellschaft, die Ärzte, die Arbeitgeber verstehen die neue Situation oft einfach nicht. Sie denken, man sei jetzt geheilt, und alles wäre wieder gut.“
Ein wichtiger Aspekt bei jungen Überlebenden sei das Thema Erwerbsfähigkeit. Der Hälfte der Krebsüberlebenden im erwerbsfähigen Alter gelinge der Wiedereinstieg ins Arbeitsleben nicht. Neben den Spätfolgen bedeute das für viele eine prekäre finanzielle Lage, die als noch schwieriger empfunden werde als die Krankheit selbst. Hilfreich wäre es, so Sabine Schreiber, wenn Fatigue in den GdB-Katalog aufgenommen werde, um Krebsüberlebende sozialrechtlich entsprechend zu versorgen. Fatigue müsse auch eine eigene ICD-Nummer bekommen, also medizinisch diagnostizierbar sein. Weil es keine ICD-Nummer gebe, würden Ärzte Fatigue nicht ernst nehmen oder es nicht mal kennen. „Wenn nicht mal meine Ärzteschaft oder meine Rentenversicherung oder meine Krankenkasse wissen, was Fatigue und Langzeitfolgen sind, kann ich auch nicht erwarten, dass mein Arbeitgeber das weiß und entsprechend reagiert. Und auch die anderen Spätfolgen müssen mehr Anerkennung bekommen, auch wenn der Tumor selbst weg. Wir brauchen sehr viel mehr Aufklärung.“ Der Verein Leben nach Krebs! e.V., den Sabine Schreiber mit gegründet hat, will Krebsüberlebende und die Öffentlichkeit über die Herausforderungen nach einer Krebserkrankung informieren. „Wir möchten, dass sich alle Krebsüberlebenden wieder als wertvollen Teil der Gesellschaft sehen.“
Georgia Schilling: „Wir verlängern mit der Kombination der Therapieverfahren das Überleben der Patienten. Zugleich erhöhen wir dadurch die Toxizität.“
PD Dr. Georgia Schilling von der Klinik für Tumorbiologie, Freiburg/Breisgau, sprach über medizinische Langzeittherapiefolgen und Langzeittoxizitäten: „Wir haben heute tolle Überlebenszahlen. Das hängt mit unseren Therapieverfahren zusammen und vor allem damit, dass wir sie kombinieren. Und in vielen Fällen können wir damit das Überleben der Patienten verlängern. Aber, indem wir verschiedene Therapiemodalitäten miteinander kombinieren, erhöhen wir auch die Toxizität, also die Nebenwirkungen dieser Therapie.“
Man unterscheide Langzeiteffekte und Spätfolgen. Langzeiteffekte würden praktisch mit der Therapie induziert, sie würden schon während der Therapie auftreten und auch fünf Jahre über die Therapie und die Nachsorge hinaus noch weiterbestehen. Typische Beispiele seien Fatigue, Ängste, ausbleibende Menstruationsblutungen bei jungen Frauen. Spätfolgen dagegen seien Toxizitäten oder Nebenwirkungen, die fünf, zehn oder sogar zwanzig Jahre nach Therapie und Gesundung auftreten. Dazu zählten zum Beispiel strahlentherapieinduzierte Schäden, wie Herzschwäche, Schäden im Magen-Darm-Trakt oder Hauttumoren sowie neurologische Folgen. Chemotherapien könnten unter anderem zu Herzschäden, Zweittumoren und Leukämien, Schwerhörigkeit, Adipositas, Diabetes mellitus, Blutdruckerhöhung oder Neuropathie führen. Im Prinzip könne jedes Organ von einer Spätkomplikation oder einem Langzeiteffekt betroffen sein. „Und man muss wissen“, so Georgia Schilling, „dass das Risiko nicht irgendwann abnimmt, sondern, zum Beispiel im Falle von Herzschäden, eigentlich über die Jahre weiterhin zunimmt; es steigt auch 30 Jahre nach der Therapie noch an. Und das müssen die Therapeuten, die nachsorgenden Ärzte, auf dem Schirm haben, auch wenn der Patient im ersten Augenblick die Hand hebt und sagt: Das möchte ich jetzt nicht wissen. Aber es ist unsere Pflicht, Langzeiteffekte und Spätfolgen dann im Verlauf einer Therapie und Nachsorge noch mal zu thematisieren und gemeinsam abzuwägen.“
Langzeiteffekt und Spätfolgen seien ein weites Feld, und es gebe noch viele Fragen. Schön wäre es, so Georgia Schilling, wenn Ärzte wüssten, welcher Patient eine Nebenwirkung bekommt und welcher Art sie ist und wie schlimm sie ist. Manchmal habe man therapeutische Alternativen und könne von vornherein anders behandeln. Es wäre ebenfalls schön für Ärzte, wenn sie Marker hätten, die das Therapieansprechen voraussagen. Dann könnte man manche Therapie, die dann hinterher doch nichts bringt, schon vermeiden. „Wir müssen uns einfach noch viel mehr mit diesen Langzeitfolgen auseinandersetzen, viel mehr Wissenschaft betreiben“, so Georgia Schilling. „Wie kann man es verhindern? Was kann man dagegen tun? Und was auch fehlt, sind die standardisierten Empfehlungen zum Monitoring, und zwar vor allem, wenn es dann über die fünf Jahre der normalen gesetzlichen Nachsorge hinausgeht. Da gibt es überhaupt gar keine standardisierte Empfehlung mehr. Und das ist etwas, was existenziell wichtig für uns alle ist.“
Julia Quidde: „Deutschland hinkt beim Thema Survivorship weit hinterher.“
„Seit 2011 haben wir in Hamburg das Programm LOTSE für Langzeitüberlebende etabliert“, so Julia Quidde, Assistenzärztin in der Onkologie am Cancer Center Hamburg. „Es muss jemanden geben, der sich für Survivorship interessiert und die Interessen der ehemaligen Patienten auch aus medizinischer Sicht vorantreibt. Unser Survivorshipprogramm beinhaltet eine Nachsorge über die eigentliche Tumornachsorge hinaus. Es ist am ehesten als ambulante Dauereinrichtung für Patientinnen und Patienten zu verstehen, die eine Krebserkrankung erfahren und die Primärtherapie abgeschlossen haben, aber an Folgen der Erkrankung oder Therapie leiden. Eine Vorstellung in den LOTSE-Sprechstunden ist nicht auf die fünf Jahre der Tumornachsorge begrenzt. Unser Ziel ist es, Bedürfnisse, Belastungen und Langzeitfolgen bei den Patienten zu erfassen und zu behandeln. LOTSE steht für ein Leben ohne Tumor, aber mit Strategie und Edukation.“
LOTSE biete Spezialsprechstunden für Erwachsene sowie Spezialsprechstunden für Heranwachsende, Jugendliche und junge Erwachsene – sogenannte AYAs – an. Die wichtigste Komponente des Programms sei der Survivorship Care Plan. Er diene als Orientierungshilfe und Leitfaden sowohl für Patienten als auch für nachsorgende Behandler. Der Plan enthalte die Diagnose mit Datum der Diagnosestellung, Stellungnahmen zur Primärbehandlung und zur Behandlung von Komplikationen, einen individuellen Nachsorgeplan, der auf den aktuellen Leitlinien basiert und zugleich individuell angepasst ist. Er enthalte auch einen Vorsorgeplan und Informationen zu möglichen Langzeitfolgen und -toxizitäten der jeweiligen Therapie. Ganz wichtig sei das Thema des Rezidiv-Risikos, des Zweitmalignom-Risikos, auch das sei in einem Survivorship Care Plan festgehalten. Zum LOTSE-Programm zähle auch das Thema Bildung, also die Ausbildung des Patienten und der nachsorgenden Ärzteschaft. Eine wichtige Funktion des Survivorshipprogramms sei zudem die Koordination der ehemaligen Behandler mit den nachsorgenden Ärzten und Spezialisten. Ein Koordinator mit Lotsenfunktion stehe dem Patienten als Ansprechpartner zur Verfügung und koordiniere Arzttermine, Nachsorgeuntersuchungen oder Vorstellungstermine beim Psychologen, Psychoonkologen, Endokrinologen usw. Und ebenso wichtig wie der Survivorship Care Plan sei die Intervention. „Je nachdem, welches Problem besteht, bieten wir verschiedene Interventionsangebote an“, erklärte Julia Quidde. „Und damit meine ich nicht nur medizinische Interventionsangebote, sondern auch Angebote, um den Lebensstil zu verbessern oder um psychologische Probleme zu stabilisieren oder zu verbessern. Auch Forschungsaktivitäten sind an unser Programm angeschlossen. All das versuchen wir zunehmend in Hamburg umzusetzen. Wir hoffen auf Nachahmer, denn Deutschland hinkt im Vergleich zu den USA beim Thema Survivorship weit hinterher.“
Abschließende Podiums- und Publikumsdiskussion
An der abschließenden Podiumsdiskussion nahm neben den Referentinnen auch Uta-Maria Weißleder (2.v.r.) von der Selbsthilfegruppe Leben nach Krebs e.V. teil. Gemeinsam mit dem Publikum wurde an einem Katalog an Ideen, Aufgaben und Forderungen gearbeitet. Die Referentinnen formulierten unter anderem folgenden Handlungsbedarf: Die Bedingungen am Arbeitsplatz müssen an die Bedürfnisse von Krebspatienten mit Beeinträchtigung angepasst werden. Dafür seien neue gesetzliche Anreize denkbar, aber auch die Sensibilisierung der Arbeitgeber notwendig. Nachsorgeanlaufstellen müssten ausgebaut und zum Beispiel in den zertifizierten Zentren organisiert werden. Fatigue müsse in die GdB-Tabelle (Grad der Behinderung) aufgenommen sowie ICD-codiert werden. Zudem bräuchte es viel mehr Forschung im Bereich Survivorship. Für Patienten und alle nachsorgenden Akteure müsse es einen erweiterten Entlassbrief geben, analog zu einem Survivorship Care Plan. Und nicht zuletzt: Ein flächendeckendes Beratungsangebot sei unabdingbar, um Menschen zu helfen.
Präsentationen zum Download
Referenten
Prof. Dr. Annelie Keil (Soziologin, Bremen); Julia Quidde (II. Medizinischen Klinik, Universitäres Cancer Center Hamburg, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf); Marie Rösler (Bremer Krebsgesellschaft); PD Dr. Georgia Schilling (Klinik für Tumorbiologie, Freiburg/Breisgau); Sabine Schreiber, Leben nach Krebs! e. V., Berlin; Uta-Maria Weißleder, Leben nach Krebs! e. V., Berlin; Dr. Johannes Bruns (Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft, Berlin)