Individualisierte Medizin/Gendiagnostik

 

Brennpunkt Onkologie vom 25.02.2015: Individualisierte Medizin – (Stellen-)Wert der Gendiagnostik

Gendiagnostik erweitert entscheidend das Terrain der klassischen krankheitsbezogenen Diagnostik – auch wenn die Medizin wahrscheinlich erst ganz am Anfang aller Möglichkeiten steht. Was ist heute bereits gendiagnostische Realität? Wie wirkt sich das auf den Bereich der Therapien aus, beispielsweise in der Onkologie? Was ist für die Zukunft wünschens- und erstrebenswert? Was muss sich dafür ändern? Wie erreichen wir das? Aber auch dann, wenn gar keine Krankheit vorliegt, lässt sich Gendiagnostik nutzen – zum Beispiel für eine Voraussage, ob und wann und unter welchen Bedingungen bei einer Person eine Krankheit auftreten könnte und welche das ist. Damit verlässt Gendiagnostik medizinischen Boden und wird zur Fragestellung von breiter gesellschaftlicher Relevanz. Sind Mediziner, die Politik, die Selbstverwaltung und der einzelne Mensch darauf vorbereitet? Worin liegt der Wert prädiktiver Gendiagnostik, worin der Nutzen für den Einzelnen und für die Gesellschaft? Auf diese und weitere Fragen suchten wir Antworten beim Brennpunkt Onkologie am 25.02.2015.

PD Dr. Eva Winkler: „Es ist ethisch geboten, die Fortschritte in der Genomforschung zu nutzen.“

PD Dr. Eva Winkler

Die technischen Fortschritte in der Ganzgenomsequenzierung seien enorm, erklärte PD Dr. Eva Winkler, Leiterin des Schwerpunkts Ethik und Patientenorientierung in der Onkologie am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen Heidelberg. Es sei ethisch geboten, die Fortschritte in der Genomforschung für die Verbesserung von Diagnosen und Therapien zu nutzen. Diese Revolution werde begleitet von einer intensiven ethischen und rechtlichen Debatte. Einer der wichtigsten Punkte sei der Umgang mit prädiktiven Zusatzbefunden, also beispielsweise Hinweisen auf behandelbare oder vorbeugbare Erkrankung oder auch Hinweise auf nichtbehandelbare bzw. vererbbare Erkrankungen mit unterschiedlicher Auftretenswahrscheinlichkeit. Soll es eine Mitteilungspflicht geben? Da solche Befunde primär im Forschungskontext auftreten, stelle sich zugleich die Frage nach der Verantwortung des Forschers im Umgang mit Befunden und Daten. In zweijähriger Arbeit sei man im Rahmen des Projekts „Ethische und rechtliche Aspekte der Totalsequenzierung des menschlichen Genoms“ (EURAT) unter anderem diesen Fragen nachgegangen und auf zwei praktische Ansatzpunkte gekommen, so PD Dr. Winkler. „Einmal Informationen für Patienten, also Mustertexte zur Patienteninformation und zur Patienteneinwilligung. Und einen Forscherkodex für Wissenschaftler, wie Bioinformatiker oder Laborwissenschaftler, die mit dem Ganzgenom umgehen.“ Der Patient bestimme vor der Testung, was er in bei Zufallsbefunden wissen will und was nicht – das Recht auf Information und Selbstbestimmung des Patienten habe oberste Priorität. Forscher wiederum seien laut Forscherkodex nicht verpflichtet, aktiv auf die Suche nach Mutationen, nach Krankheiten zu gehen. Für den Fall eines zufälligen Fundes gebe es aber die Möglichkeit, das an den Patienten zurückzumelden und zwar über den behandelnden Arzt. Dieser sei eine Art Treuhänder: Hier fließen die Gesundheitsdaten des Patienten, der Wille des Patienten und die Zufallsbefunde zusammen. „So stellen wir sicher, dass die Rückmeldung von Ergebnissen analytisch gesichert, wissenschaftlich validiert und gesundheitsrelevant ist“, erklärt PD Dr. Winkler. „Der Forscherkodex ist in der Uni Heidelberg und beim DKFZ heute implementiert als untergesetzliche Regelung. Wir reagieren dabei auch auf eine Gesetzeslücke, so dass ein Forscher davor geschützt wird, Befunde und Daten an Dritte geben zu müssen, beispielsweise an Versicherungen.“

Prof. Johannes Lemke: „Wir reden über eine Buchstabenreihe, die 100 Bücher à 1.000 Seiten füllt. Wir verstehen nur einen Bruchteil davon.“

Prof. Dr. Johannes Lemke

Prof. Johannes Lemke, kommissarischer Leiter des Instituts für Humangenetik am Universitätsklinikum Leipzig, sprach zum Thema „Molekulare und genetische Diagnostik -

Methoden einfach erklärt“ und beschrieb zunächst die Dimension der Gendiagnostik: „Die Abfolge unseres Genoms in Buchstaben übersetzt und eng beschrieben entspricht 100 Bücher à 1000 Seiten“, so Prof. Lemke. „Konkret gesagt sind es 3,2 Milliarden Basenpaare, die sich auf 46 Chromosomen verteilen. Nur ein Bruchteil davon - ungefähr anderthalb Prozent des menschlichen Erbgutes - enthält Gene, die für bestimmte Proteine kodieren. Von diesen Genen gibt es wiederum 22.000. Und auch nur von einem kleinen Anteil dieser Gene, die es im menschlichen Erbgut gibt, kennen wir überhaupt die Funktion beziehungsweise wissen, dass die mit bestimmten Krankheiten assoziiert sind.“ Daran werde deutlich, dass man erst am Anfang der Möglichkeiten stehe. Wer Diagnostik betreiben möchte, müsse sich immer vor Augen führen, wonach gesucht werde und auf welcher Ebene man suchen müsse: auf der chromosomalen, auf der submikroskopischen Ebene oder auf der molekularen Sequenz oder molekularpathologischen Ebene. Man müsse zudem beachten, so Prof. Lemke, mit welchem Gewebe man es zu tun habe und was man suche: eine familiäre BRCA-1-Mutation oder eine tumorspezifische Mutation, die für die Klassifizierung des Tumors oder für die Therapie von Relevanz sein könnte. Für alles gebe es Methoden und Lösungen, die sich ständig weiterentwickelten. Dazu gehöre inzwischen auch die Möglichkeit, das ganze Genom zu analysieren. Neueste Hochdurchsatz-Sequenziermethoden haben bereits Einzug in die Routine-Diagnostik gefunden und erlauben es, ein ganzes Spektrum an Genen gleichzeitig zu analysieren. Dies ermöglicht die größtmögliche Aufklärungsrate. Jedoch werden zugleich viele Befunde erhoben, die man zum heutigen Zeitpunkt noch nicht immer zweifelsfrei interpretieren könne, so Prof. Lemke. Die Herausforderung der kommenden Jahre wird es sein, die Wertigkeit dieser Befunde genauer zu ergründen.

Prof. Dr. Christof von Kalle: „Es ist gut, dass wir jetzt hochauflösende Aufnahmen aus dem Innern der Zelle dem diagnostischen Prozess hinzufügen. Hochauflösende Röntgenbilder sind ja auch besser als niedrig auflösende.“

Prof. Dr. Christof von Kalle

Prof. Dr. Christof von Kalle, Sprecher des NCT-Direktoriums und Direktor der Abteilung Translationale Onkologie, Heidelberg, unterstrich die Bedeutung und die Chancen von Gendiagnostik als hochauflösendes Abbildungsverfahren. Die Genanalyse müsse deshalb aus dem Forschungskontext in die Klinik überführt werden - verantwortungsvoll, schnell genug, aber auch nicht überstürzt, ohne den Patienten mit zu überzogener Interpretation zu nahe zu treten, aber andererseits auch nicht zu verzögern, dass ihm vielleicht positive Befunde zugutekommen. Eine Vielzahl an Aufgaben gelte es dabei zu lösen: Die ganzen Daten müssten interpretiert, medizinisch verständlich gemacht und auch mit den anderen Daten, die man vom Patienten habe, zusammengeführt werden. Dafür brauche man neue Lösungen und für entsprechende Studien lernende Protokolle der Biotechnik und Biostatistik, aber auch eine leistungsfähige Datenverarbeitungsstruktur. Es ändere sich aber auch der klinische Diskussionsprozess. „Wir haben für uns beschlossen, dass wir eine gemeinsame Datenstruktur für Forschung und Klinik entwickeln wollen“, so Prof. Kalle. „Sie erlaubt es uns, die verschiedenen Datenquellen in unterschiedlicher Form zusammenzuführen und wesentlich intensiver und auch mit größerem Aufwand mit Daten zu arbeiten, als wir das bislang getan haben.“ Unter bestimmten Umständen sei es notwendig, die Unkenntlichmachung persönlicher Angaben zu durchbrechen. Auch dafür habe man bereits eine Lösung: Im NCT wurden die Extraktion der Analyten, das heißt, die Darstellung des Gewebes und die Auflösung und die Zuordnung zu der richtigen Person, auch die Zuordnung der Proben zueinander, standardisiert. „Die wichtigste Frage ist aber: Müssen wir nicht vielleicht die ein oder andere Leukämie behandeln wie einen Hautkrebs? Müssen wir nicht generell die Patienten betrachten nach der Frage, ob die möglicherweise eher als was anderes betrachtet werden sollten?“, so Prof. von Kalle.

Dr. Dr. Saskia Biskup: „Wir können mit der alten Technologie einfach nicht mehr die richtigen Diagnosen stellen.“

Dr. Dr. Saskia Biskup

„Ich stelle jeden Tag fest, dass die Patienten im Thema Gendiagnostik teilweise besser informiert sind als der behandelnde Arzt“, sagte die niedergelassene Ärztin und Humangenetikerin Dr. Dr. Saskia Biskup, Tübingen, zu Beginn ihres Vortrags. Viele Patienten hätten seltene Erkrankungen – die neuen Möglichkeiten seien die einzigen, eine Diagnose bei diesen Patienten zu stellen und die bislang durchschnittliche Diagnosedauer von sieben Jahren dramatisch zu kürzen. Auch das Thema der Tumormosaike könne nicht mit alter Technologie angegangen werden. Vorauf es ankäme, so Dr. Biskup, sei die Aufklärung des Patienten. Sie sei ebenso wichtig wie die interdisziplinäre Betreuung des Patienten und nicht zuletzt die Qualitätssicherung. „Wir müssen uns in Deutschland schnell einigen auf eine einheitliche Akkreditierung der Anbieter. Es können viele Fehler bei der Gendiagnostik passieren, deshalb ist Qualitätssicherung essenziell.“ Darüber hinaus sei auch die Kostenübernahme ein Diskussionsthema. „Eine genetische Testung am Anfang spart enorme Kosten, weil man die Zeit zur Diagnosestellung reduziert, Nebenwirkungen vermeidet und gezielt therapiert. Die neuen Methoden, die wir jetzt zur Verfügung haben, ermöglichen es uns, praktisch jeden einzelnen, individuellen Tumor zu charakterisieren. Das muss Standard vor jedem Therapiebeginn werden. In 76 Prozent der Proben finden wir etwas Therapierelevantes“, beschreibt Dr. Biskup ihren Alltag. „Sei es, dass man sagt, es ist möglicherweise eine Resistenz gegen eine Therapie, die gerade verabreicht wird. Oder wir haben spezifische Ansatzpunkte, die ermöglichen, dass der Patient gezielt behandelt werden kann oder in eine Studie aufgenommen wird. Es ist die Mehrzahl der Fälle. Das heißt, die neuen Möglichkeiten müssen in meinen Augen dringend in die Patientenversorgung integriert werden.“ Abschließend gab Dr. Biskup einen Ausblick auf die weitere Entwicklung: „Die Zukunft wird sicher liquid biopsy sein. Möglicherweise wird man bald kein Tumorgewebe brauchen, sondern die Tumor-DNA aus dem Blut herausamplifizieren und sequenzieren können.“

Prof. Dr. Jürgen Wolf: „Unser Projekt ist getragen von Optimismus und von der Einsicht in die Notwendigkeit, nicht von Befürchtungsszenarien.“

Prof. Dr. Jürgen Wolf

Prof. Dr. Jürgen Wolf, Ärztlicher Leiter und Vorsitzender der Geschäftsführung des Centrums für Integrierte Onkologie (CIO) Köln Bonn, sprach sich dafür aus, die durch die genetische Diagnostik möglichen therapeutischen Fortschritte auch schnell und effizient den Patienten zukommen zu lassen. „Das gilt nicht nur für den Patienten, der in der Uniklinik oder an einem Spitzenzentrum behandelt wird, sondern für jeden Patienten“, so Prof. Wolf. Das CIO Köln Bonn habe sich bereits auf diesen Weg gemacht und bringe über das Netzwerk Genomische Medizin (NGM) eine qualitätsgesicherte molekulare Multiplex-Diagnostik Schritt für Schritt in die Fläche. Hier stünden nicht einzelne Companion-Diagnostic-Tests im Fokus, sondern man erzeuge vor der Therapie ein qualitätsgesichertes Gesamtbild jedes Patienten bezüglich seiner therapeutisch angehbaren somatischen genetischen Aberrationen. Da für viele dieser Treibermutationen in der spezifischen Indikation noch keine Medikamente zugelassen sind, führe das zu einem Anstieg von Off-Label Behandlungen. Um hier nicht in eine kasuistische Medizin zurückzufallen, bedürfe es der Dokumentation des Therapieerfolgs auch außerhalb klinischer Studien. „In unserem Netzwerk Genomische Medizin bauen wir gerade eine solche Datenbank mit dem NGM-Cancer-Information-System auf. Wir bieten außerdem für jede Treibermutation eine Studie an. Das sind zumeist frühe, oftmals sogar First-in-man-Studien. Beim nicht-kleinzelligen Lungenkrebs hat man so für ca. 25 Prozent der Patienten eine personalisierte Therapieoption. Was mache ich aber mit den 75 Prozent der Patienten, bei denen ich keine Treibermutation finde? Das ist die größte Herausforderung für die nächsten Jahre, und es wird ein harter Weg.“

Der Erfolg des Netzwerks Genomische Medizin zeigt sich unter anderem in der Entwicklung. 2010 waren es 1.000 Patienten, 2014 wurden bereits 4.500 Patienten durchgenotypisiert. Das seien über sieben Prozent der deutschen Lungenkrebspatienten. „Wir können und wollen aber nicht alle Lungenkrebspatienten in Köln diagnostizieren“, erklärt Prof. Wolf. „Wir haben deshalb in Göttingen ein zweites diagnostisches Zentrum eröffnet. Wir stellen uns vor, dass man mit vielleicht 10 bis 20 dieser Zentren in Deutschland den Bedarf decken kann. Die Kosten einer solchen Diagnostik sind im Vergleich zu den Kosten der Therapie viel geringer: nur etwa ein bis zwei Prozent der Therapiekosten. Ich denke, es gibt keinen Grund, nicht in die Fläche zu gehen.“ In den Krankenkassen habe man auf diesem Weg konstruktive Partner gefunden. So übernehme die AOK Rheinland/Hamburg seit April 2014 die Kosten für die Multiplex-Genotypisierung sowie die Beratung über die möglichen therapeutischen Konsequenzen in einem Integrierten Vertrag. Weitere Kassen hätten ihre Bereitschaft bekundet, diesem Vertrag beizutreten. „Ich schätze, über die gemeinsame Evaluation mit den Krankenkassen werden wir die Daten dafür generieren, dass die somatische genetische Diagnostik von Tumorerkrankungen in wenigen Jahren weitgehend in die Regelversorgung übernommen wird.“

Dr. Friedrich von Bohlen und Halbach: „Wir müssen nicht die Systeme bauen, die unsere Großeltern gut gefunden hätten, sondern die, die für unsere Kinder passen.“

Dr. Friedrich von Bohlen und Halbach

Dr. Friedrich von Bohlen und Halbach, Beiratsvorsitzender der MolecularHealth GmbH in Heidelberg, beschrieb in seinem Vortrag zunächst die Zielsetzung des Unternehmens: „Molekulare Profilierung ist meines Erachtens die einzige Möglichkeit, tatsächlich evidenzbasiert diagnostizieren und therapieren zu können. Das geht aber nur, wenn man das Weltwissen, das man für die Interpretation und Navigation braucht, elektronisch verfügbar hat“, so Dr. von Bohlen. Deshalb habe man schon 2004 damit begonnen, die biomedizinische und pharmakologische Weltliteratur zu digitalisieren und so ein umfassendes und komplettes Datawarehouse zu bauen, bestehend aus Dutzenden von kurierten Einzeldatenbanken. Durch jahrelange Arbeit sind unter anderem das komplette Wissen über menschliche Gene und Eiweiße, das gesamte biomedizinische Weltwissen, Informationen zu allen Biomarkern, die Wirkmechanismen aller Arzneien der Welt und aller Arzneimittel, die sich in der klinischen Entwicklung befinden, Chemieinformationen, Medizinwissen, Reports von der amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie Patientendatenbanken kuriert verfügbar, integrierbar sowie interpretierbar und werden laufend aktualisiert. Diese Informationen könne man über Interpretationsapplikationen – „Engines“ genannt – verknüpfen und für jeweilige Fragestellungen interpretieren und auswerten. Derzeit biete das Unternehmen drei Engines an, zwei weitere seien in der Entwicklung. Die erste Such- und Interpretationsfunktion beantworte die Frage: Welche Therapiemöglichkeiten gibt es basierend auf dem molekularen Profil des Patienten und seiner Erkrankung, beispielsweise bei Krebs? Das sei insbesondere für Ärzte, Krankenhäuser und Krebszentren interessant. Die zweite Suchfunktion ginge in Richtung Pharma- und Diagnostikaindustrie: Für welche Patienten kommt ein bestimmtes Medikamentenprofil in Betracht? Diese Frage stelle sich bei der Planung klinischer Studien neuer Arzneimittelkandidaten. Und die dritte Suchfunktion solle Fehlmedikationen vermeiden bzw. minimieren helfen: Das Wirk- bzw. Interaktionsprofil eines Medikaments und die Molekularität eines Patienten auf der Basis der metabolisierenden Enzyme werden miteinander verglichen und so mögliche Nebenwirkungen einer Medikation bzw. einer Ko-Medikation aufgedeckt. „Wir müssen uns den Herausforderungen stellen und die großen Chancen erkennen, die die molekulare Diagnostik sowieso liefern wird“, plädierte Dr. von Bohlen. „Das heißt ja nicht, dass man über das hinweggeht, was beispielsweise Regulatoren und Erstatter an Fragen haben. Aber die molekulare Diagnostik ist technologisch heute schon Realität. Sie ist die Grundlage für Präzisionsmedizin. Das versteht jeder.“ Wichtig dabei auch, dass nicht jeder für sich Daten sammelt, sondern dass man idealerweise eine zentrale Datenbank hätte, auf die alle zugreifen und die enthaltenen Informationen nutzen könnten. In den USA werde ein solches System unter Federführung der ASCO derzeit aufgebaut. Eine nationale Datenbank könne zudem ein guter Kristallisationspunkt für eine gesellschaftliche Debatte zur molekularen Diagnostik und den Vorteilen für Patienten sein. „Die Politik muss verstehen, dass es hier nicht um einige weitere Datensätze geht, sondern dass das eine komplett neue Medizin kreiert, mit Chancen und Konsequenzen für Regulierungsmechanismen bei Medikamenten, bei Studien, bei Off-Label-Behandlungen, vor allem aber für die Patienten“, so Dr. von Bohlen. Er plädierte auch dafür, die primäre Wertschöpfung in Deutschland nicht zu vergessen: „Es ist nicht schön, wenn wir fünf Jahre lang zum Beispiel über Datenschutz diskutiert haben und uns die Technologie dann aus Amerika einkaufen. Dann haben wir einen Fehler gemacht.“

Podiumsdiskussion „Was braucht es an nächsten Schritten?“

Podiumsdiskussion
v.l.: Prof. Dietel, Prof. v. Kalle, Prof. Wolf, Dr. Biskup, Dr. Bruns

In der abschließenden Podiumsdiskussion „Worin liegt der Wert der Gendiagnostik?“ herrschte Einigkeit über den Wert und die Chancen der Gendiagnostik. Bei der Frage „Was braucht es jetzt an nächsten Schritten?“ wies Prof. Dr. Manfred Dietel, Direktor des Instituts für Pathologie, Charité Universitätsmedizin Berlin, bereits auf die Aufgaben der nächsten fünf bis zehn Jahre im Bereich der Forschung hin. „Wir dürfen nicht stehen bleiben, Tumorgenetik erfasst bei weitem nicht alle biologisch relevanten Eigenschaften eines Tumors, wir haben noch einige Schritte vor uns. Das ist unter anderem die Proteomanalyse – also die Möglichkeit, in den Tumoren beispielsweise die Aktivität von Kinasen und deren Inhibitoren prädiktiv vorauszusagen. Das war bisher sehr kompliziert und so teuer, dass es für die Diagnostik nur begrenzt einsatzfähig war. Nun gibt es aber neue technische Möglichkeiten mit einem vertretbaren finanziellen Aufwand. Das ist ein weiterer wichtiger Baustein zur Optimierung einer Tumortherapie. Die Pipelines der Pharmaindustrie sind voller neuer Substanzen, darunter sind viele Kinase- und PARP-Inhibitoren sowie neue Immuntherapeutika mit zum Teil verblüffendem Wirkungsspektrum.

Übrigens findet auf dem Gebiet der Präzisionsonkologie zwischen der forschenden Pharmaindustrie und der medizinischen Wissenschaft ein außerordentlich erfreulicher und offener Wissensaustausch statt, der letztlich allen hilft, besonders den Patienten. Generell Ich bin überzeugt davon, dass die Vernetzung von Erkennt­nissen und die Interdisziplinarität  essentiell geworden sind und in Zukunft bleiben werden. Problematisch sehe auf der anderen Seite die verschiedenen administrativen und regulatorischen Ebenen und Institutionen unseres Gesundheitssystems wie KBV, G-BA, IQWiG, die Krankenkassen et cetera. Da wartet immer einer auf den anderen, und es dauert Jahre, bis neue Analysesysteme und in deren Folge Therapien etabliert werden können. Ist das die richtige Struktur zur zeitnahen Einführung für revolutionäre Technologien und Behandlungsstrategien zum Wohl der Patienten?“

Für Dr. Dr. Saskia Biskup (Humangenetikerin, Tübingen) ist die flächendeckende Edukation der neuen gendiagnostischen Möglichkeiten ein notwendiger nächster Schritt: „Es ist bei weitem nicht so, dass der Onkologe in Deutschland von den Möglichkeiten weiß. Damit bleibt für Patienten viel zu oft der Zugang zur Gendiagnostik verschlossen oder er kommt zu spät. Im Übrigen haben wir auch keine flächendeckende molekulare Diagnostik auf dem höchsten Standard in Deutschland. Wir haben sie vielleicht in Zentren wie in Heidelberg, in Köln, in Tübingen, aber das hat sich deutschlandweit noch nicht herumgesprochen. Man muss sich mal überlegen, wie viele Patienten keinen Zugang zu dieser Diagnostik haben, obwohl wir die Positivbeispiele sehen und diese Erfolge. Ich sehe auch noch nicht wirklich einen konkreten Ansatz, wie man das möglichst schnell ändern kann. Und dabei reden wir erst über Diagnostik, und noch lange nicht über Therapie.“

Dr. Johannes Bruns, Generalsekretär der DKG, machte auf systemische Schwierigkeiten bei der Implementierung aufmerksam: „Edukation ist das eine, aber das deutsche Gesundheitswesen ist gar nicht darauf vorbereitet auf die Implementierung einer solchen Innovation. Denn die muss schrittweise erfolgen, als Stufenimplementierung, weil sie so komplex ist und viele Fragen aufwirft. Das würde zum Beispiel konkret bedeuten: Nicht jeder Pathologe darf zu Beginn im gendiagnostischen Bereich alles machen. Und während das System die Innovation nach und nach serienreif macht, sozusagen als Innovationsbegleiter, werden parallel dazu Behandlung und Therapie entwickelt. Unser System funktioniert aber bislang so nicht. Entweder ist die Innovation fertig und zugelassen und nutzenbewertet – oder sie ist es nicht, und dann ist sie verboten.“ Zu den Kosten der Gendiagnostik gab Dr. Bruns zu bedenken: „Man muss aus Sicht der GKV bzw. auch eines Politikers denken. Da wird zunächst ganz simpel gerechnet: 500.000 Neuerkrankungen mal 1.000 Euro Kosten für Gendiagnostik – das sind eine halbe Milliarde Euro im Jahr, die investiert werden müssen. Das ist eine Menge Geld; im Vergleich zu den Kosten langer Therapien aber nur ein Bruchteil. Für die GKV und die Politik müssen diese Zusammenhänge ersichtlich gemacht werden: Das Geld ist nicht weg, sondern die Investition fließt in Form deutlich sinkender Therapiekosten zurück.“

Prof. Dr. Christof von Kalle (NCT) sprach ebenfalls das Thema Finanzierung an: „Wir können uns ja über die Forschungsfinanzierung in Deutschland an sich nicht beklagen. Aber der Bereich, in dem man prüft, ob etwas Neues in der Klinik machbar ist – dafür gibt es kein eigenes Finanzierungsinstrument. Das wäre aber nötig. Man muss auch mal verschiedene Dinge mit dem Patienten zusammen versuchen, und das kostet eben etwas mehr. Hier muss man Gesundheits- und Forschungsausschuss bzw. die Ministerien ressortübergreifend zusammenbringen, das scheint mir nicht so leicht. Andernfalls wird man diese Technologie zwar ins System bekommen, aber mit einer deutlich längeren Schleife.“

Referenten

Dr. Dr. Saskia Biskup (Tübingen); Dr. Friedrich von Bohlen und Halbach (MolecularHealth GmbH, Heidelberg); Dr. Johannes Bruns (Deutsche Krebsgesellschaft, Berlin); Prof. Manfred Dietel (Institut für Pathologie, Charité Universitätsmedizin Berlin); Prof. Dr. Christof von Kalle (NCT-Direktoriums, Heidelberg); Prof. Johannes Lemke (kommissarischer Leiter des Instituts für Humangenetik am Universitätsklinikum Leipzig); PD Dr. Eva Winkler (Nationales Centrum für Tumorerkrankungen, Uni Heidelberg); Prof. Dr. Jürgen Wolf (Centrum für Integrierte Onkologie, Köln/Bonn)

Fotos: ro-b.com Photography