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Leitlinien für die Krebstherapie: Entstehung, Bedeutung und praktische Umsetzung

Brille, Buch, Stetoskop
Quelle: Ljupco Smokovski © fotolia.com

Für viele Erkrankungen werden von medizinischen Fachgesellschaften ärztliche Behandlungsleitlinien entwickelt. Sie stellen  – im Gegensatz zu rechtlich verbindlichen Richtlinien – praktische Orientierungshilfen dar und geben Handlungsmöglichkeiten vor, von denen auch abgewichen werden kann. Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von Krebserkrankungen sind Ärztinnen und Ärzten eine wertvolle Hilfe bei der Entscheidung über die individuell bestmögliche Therapie für den einzelnen Patienten.

Wie entstehen Leitlinien und Empfehlungen?

Leitlinien sind systematisch entwickelte Hilfen für Ärzte zur Entscheidungsfindung in verschiedenen Behandlungssituationen. Die Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von Krebserkrankungen werden von der Deutschen Krebshilfe, der Deutschen Krebsgesellschaft und der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) herausgegeben. Sie entstehen auf der Grundlage von Forschungsergebnissen und werden regelmäßig aktualisiert. Über allem steht das Ziel, den Patienten aufgrund empirisch nachgewiesener Wirksamkeit einer Behandlung bestmöglich zu behandeln.

Dabei gibt es verschiedene qualitative Entwicklungsstufen, die in S1, S2 und S3 unterteilt sind: Während eine S1-Leitlinie lediglich die gemeinsame Meinung einer Expertengruppe wiedergibt, wird für eine S3-Leitlinie eine große Zahl wissenschaftlicher Studien detailliert ausgewertet und hinsichtlich ihrer Relevanz und Qualität eingeschätzt. Ein wichtiges Kriterium für die Formulierung von Leitlinien-Empfehlungen ist dabei die „Evidenz“: Evidenzbasierte Medizin kombiniert die Ergebnisse systematischer Forschung einerseits mit der klinischen Expertise, d. h. mit Erfahrungen aus der Praxis anderseits sowie zusätzlich mit den Präferenzen der Patienten. Eine systematische Zusammenfassung und transparente Bewertung der verfügbaren Evidenz liefern dann die medizinischen Leitlinien.

Je nachdem, wie gut die Evidenzlage ist, geben Leitlinien Behandlungsempfehlungen mit unterschiedlich starken Empfehlungsgraden. Eine sogenannte „Soll“-Empfehlung hat dabei den stärksten Empfehlungsgrad, gefolgt von „Sollte“- und „Kann“-Empfehlungen. Wenn also in der Leitlinie steht: „Das Verfahren XY soll zum Einsatz kommen.“, heißt dies, dass Studien mit vielen Patienten den Vorteil der beschriebenen Methode nachgewiesen haben. Dagegen bedeutet die Formulierung „Eine Therapie mit dem Medikament XY kann durchgeführt werden“, dass Experten aus ihrer Erfahrung heraus diese Meinung vertreten, dass es aber keine oder nicht genügend klinische Studien von guter Qualität gibt, um den Sachverhalt evidenzbasiert beurteilen zu können.

Stärken und Schwächen von Leitlinien

Modell-Krankenhaus
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Obwohl Leitlinien sehr hilfreich und wichtig sind, haben sie auch Schwächen. Zum einen gibt es sie in der Regel nur für häufige Krankheitsbilder, da für seltenere Erkrankungen oft gar nicht genügend Studien und Erfahrungen existieren, um evidenzbasierte Empfehlungen aussprechen zu können. Ein weiteres Problem ist die Aktualität: Je höher die Qualitätsstufe einer Leitlinie ist, umso länger dauert der Prozess ihrer Entwicklung. In der Regel werden Leitlinien alle fünf Jahre aktualisiert. In der Zwischenzeit können sich schon wieder neue wissenschaftliche Erkenntnisse ergeben, die nicht mit aufgenommen werden. Wenn Forschungsergebnisse jedoch zu schnell in die Empfehlungen aufgenommen werden, z. B. auf Basis nur einer großen positiv verlaufenen Studie, kann es passieren, dass diese Empfehlung später wieder zurückgezogen werden muss. Allerdings würde die Aufnahme beispielsweise eines neuen Medikaments dann mit einem entsprechend geringeren Empfehlungsgrad und dem Hinweis auf die noch geringe Evidenz erfolgen. 

Ein weiterer, mit dem Basieren auf klinischen Studien zusammenhängender Punkt ist die Orientierung am Durchschnittspatienten. Auf das spezielle Individuum bezogen können und müssen manchmal von den Leitlinien abweichende Therapieentscheidungen gefällt werden. Das wiederum eröffnet die Frage nach dem Verhältnis von Personalisierter Medizin und der evidenzbasierter Medizin. In der personalisierten Therapie werden die Patienten in molekular definierte Subgruppen untergeordnet und mithilfe von Biomarkern immer differenzierter behandelt. Die Evidenzbasierte Medizin und ihre Methoden reichen nicht bis in diese kleinen Subgruppen hinein. Dennoch ist die geringe Anzahl an Patienten in den Subgruppen und die widersprüchliche Studienlage ein Problem. Gefragt ist an dieser Stelle ein neues Studiendesign, welches die Therapieauswahl auf Basis der Biomarker auch für die Evidenzbasierte Medizin zugänglich macht.

Da die Mitglieder von Leitlinien-Kommissionen oft auch Verbindungen zur Pharma-Industrie haben, beispielsweise weil sie klinische Studien durchführen oder zu Vorträgen eingeladen werden, wird ihnen mitunter unterstellt, dass sie kommerzielle Interessen verfolgen. Um einen potenziellen Einfluss der Industrie zu verhindern, müssen alle Beteiligten ihre Verbindungen zu Pharmafirmen offenlegen, und es werden bestimmte methodische Vorkehrungen getroffen, um eine Verzerrung zu verhindern. So werden die einzelnen Kapitel einer Leitlinie bei jeder Aktualisierung von einem anderen Autorenteam erstellt, und jede einzelne Empfehlung wird innerhalb der gesamten Kommission diskutiert und durch Mehrheitsentscheidung abgestimmt.

Patientenleitlinien

Begleitend zu S3-Leitlinien werden in der Regel auch Patientenleitlinien erstellt. Da sie auf den jeweiligen ärztlichen Leitlinien beruhen, geben Sie das beste zurzeit verfügbare Wissen wider. Patientenleitlinien „übersetzen“ die wissenschaftlichen Erkenntnisse in eine gut verständliche Form und helfen Patienten, Krankheiten, Untersuchungs- und Behandlungsmethoden besser zu verstehen.

Beispiel: Brustkrebs: Leitlinien in zertifizierten Zentren sehr gut befolgt

Hand über Brust, Quelle: Forgiss © fotolia.com
Quelle: Forgiss © fotolia.com

Auch für Brustkrebs gibt es verschiedene nationale und internationale Leitlinien. Die wichtigste deutsche Behandlungsempfehlung ist die S3-Leitlinie der Deutschen Krebsgesellschaft und verschiedener Fachgesellschaften, die zuletzt 2012 erschienen ist. Jährlich aktualisiert werden die Empfehlungen der Kommission Mamma der Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie e. V. (AGO).

Auf dem Deutschen Krebskongress im Februar 2014 stellte Prof. Christian Jackisch, Brustkrebsexperte aus Offenbach, eine Studie der sogenannten Versorgungsforschung vor, die die leitliniengerechte Behandlung von Brustkrebspatientinnen in deutschen zertifizierten Brustkrebszentren überprüfte. Dabei wurde deutlich, dass die Empfehlungen der Leitlinien in den Brustzentren gut und flächendeckend umgesetzt werden. Eindrucksvoll zeigte sich dies unter anderem beim Vergleich der Chemotherapien von 2004 bis 2012: So wurden Medikamente, die 2004 noch der Standard waren, 2012 fast gar nicht mehr angewendet und wurden durch neue, wirksamere Substanzen ersetzt.

Forschung findet Anwendung in der Praxis

Der starke Rückgang von Lymphknoten-Entfernungen im Jahr 2012 im Vergleich zu 2010 beweist, dass Forschungsergebnisse innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums in die Praxis übertragen werden. Denn nachdem sich in mehreren Studien gezeigt hatte, dass die vorsorgliche Entfernung der Achsel-Lymphknoten keine Vorteile mit sich bringt, war in den Leitlinien ein schonenderes Vorgehen empfohlen worden. Ähnliches gilt für ein weniger radikales Vorgehen bei der Operation: Wurden 2004 noch bei 40% der Patientinnen die Brust amputiert, lag der Anteil der Brustamputationen 2010 nur noch bei 29% .2012 wurden bereits 78% der Patientinnen brusterhaltend operiert.

„Wir sehen einen hochsensiblen, verantwortungsvollen Umgang mit Evidenz“, sagte Prof. Jackisch. Therapieempfehlungen und Leitlinien werden in den zertifizierten Brustkrebszentren in Deutschland verlässlich angewendet, so dass Brustkrebs-Patientinnen hier eine exzellente Versorgung erhalten.

(pp)

Linktipp:

Patientenleitlinien zum Download oder zur Bestellung gibt es auf den Seiten der Deutschen Krebshilfe: http://www.krebshilfe.de/wir-informieren/material-fuer-betroffene/patientenleitlinien.html


Quellen:
AEMF online: Leitlinien. http://www.awmf.org/leitlinien.html
äzq: Leitlinien-Methodik. http://www.leitlinien.de/leitlinienmethodik
Jackisch, Christian: Versorgungssituation des Mammakarzinoms in Deutschland. Vortrag beim Deutschen Krebskongress 2014, Plenar: Mammakarzinom I.
krebsgesellschaft.de: Leitlinien. http://www.krebsgesellschaft.de/deutsche-krebsgesellschaft/leitlinien.html
http://www.apotheken-umschau.de/Therapien/Aerztliche-Leitlinien-Behandeln-nach-Plan-494171.html
Krebs und Politik - eine Publikation der Deutschen Krebsgesellschaft . Ausgabe 3, Oktober 2017: https://www.krebsgesellschaft.de/deutsche-krebsgesellschaft-wtrl/deutsche-krebsgesellschaft/gesundheitspolitik/360-grad-onkologie.html

 

 

Letzte inhaltliche Aktualisierung am 27.10.2017

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