Digitalisierung in der Onkologie

 

Brennpunkt Onkologie vom 21.11.2018: Digitale Entwicklungen und ihre Herausforderungen für Technik, Medizin und Politik

Die Digitalisierung im Gesundheitswesen gehört derzeit zu den Lieblingsthemen der Medien: Deutschland hinke hinterher - im Gegensatz zum internationalen Ausland. Dort gebe es längst mächtige Allianzen zwischen den großen IT-Unternehmen und renommierten Kliniken sowie Forschungseinrichtungen zur Erforschung der künstlichen Intelligenz (KI) im Gesundheitswesen. Wie aber steht es tatsächlich um die digitale Onkologie in Deutschland? Wo arbeiten wir heute noch überwiegend analog? Diese und weitere Fragen haben wir im Brennpunkt Onkologie am 21. November 2018 diskutiert.

Krebs in Zukunft mit Hilfe der personalisierten Medizin heilen zu können ist eine ehrgeizige Vision. Dank einer zunehmend präziseren Diagnostik mangelt es nicht an individuellen Daten als Grundlage: Von Labordaten, Studiendaten, Daten aus der digitalen Bildgebung bis hin zu Genprofilen steigt sowohl die Menge als auch die Zahl der Quellen rasant an.

Eine wichtige Voraussetzung, um sinnvoll mit den Daten der Patienten umzugehen und letztlich um Evidenz zu neuen Therapien zu erhalten, ist eine gut funktionierende Telematik-Infrastruktur. Ein elektronischer Datenaustausch wird dringend gebraucht, nicht nur zwischen stationärer und ambulanter Versorgung, sondern auch im Hinblick auf die Forschung. Die Bundesregierung will die nötigen Anpassungen aktiv vorantreiben mit der verpflichtenden Einführung einer elektronischen Patientenakte (ePA) ab 2021 und Maßnahmen zur Verbesserung der Interoperabilität der verschiedenen Aktenlösungen.

Prof. Dr. Reinhold Schäfer: "Ich wünsche mir, dass wir künftig genomische Daten genauso einfach interpretieren können, wie wir heute Shakespeare-Texte interpretieren."

Prof. Dr. Reinhold Schäfer

Prof. Dr. Reinhold Schäfer, stellvertretender Direktor (Translationale Forschung) im Charité Comprehensive Cancer Center Berlin, sprach zum Thema "Herausforderungen bei der Interpretation von genetischen Profilen": "Wir haben zahlreiche Beispiele dafür, dass innovative genomische Analysen in der Patientenversorgung angekommen sind und klinisch relevante Ergebnisse zeigen. Die diagnostische Auswertung von Genomdaten wird durch die Komplexität und die Plastizität der Tumorzellen erschwert: Es gibt Tumoren mit hunderten Mutationen, deren funktionelle Bedeutung noch unbekannt ist. Einige Mutationen bewirken eine völlige Deregulation von Signalwegen der Zelle – ein Hindernis bei der zielgerichteten Behandlung. Nicht selten verteilen sich genetische Veränderungen nicht gleichmäßig im Tumor. Darüber hinaus wird die Komplexität des Tumors durch Wechselwirkung mit Immunzellen und mit Stromazellen noch erhöht. Nicht zuletzt: Wir führen die Genequenzierung zu einem späten Zeitpunkt durch, nachdem der Tumor ein langes Progressionsinterval zurückgelegt hat, das heißt, wir fertigen gleichsam einen Schnappschuss an. Es stellt sich die Frage: Wann müssten wir eigentlich sequenzieren? Müssten wir das mehrfach tun? Und wird die Korrelation großer Datenmengen aus den Genomstudien tatsächlich versteckte Erkennungsmuster liefern? Werden die individuelle Prognose und das therapeutische Ansprechen besser als bisher vorhersagbar? Das sind einige der wichtigsten Herausforderungen, die sich bei der Interpretation genomischer Daten ergeben.
Die Informationsbeschaffung im Gefolge der bioinformatischen Untersuchung von komplexen Omicsdaten erfolgt derzeit noch weitgehend manuell. Eine Digitalisierung wäre wichtig, um den Wust an Informationen zu strukturieren, zu verarbeiten. Mein Wunsch ist es, dass wir genomische Daten künftig genauso einfach interpretieren können, wie wir heute Shakespeare-Texte mit Hilfe von Konkordanzen deuten. Könnten genomische Daten so aufbereitet werden, dass wir bei einer bestimmten Alteration mit wenigen Mausklicks sehen, was deren Biologie ist, was die möglichen therapeutischen Angriffspunkte sind und ob es relevante klinische Studien oder nur Einzelbeobachtungen gibt usw.? All diese Dinge tragen wir heute mühsam per Hand zusammen, zum Beispiel in dem wir diverse nicht strukturell verbundene Datenbanken durchmustern müssen."

Prof. Dr. Bernhard Wörmann: "Es wird nie eine Leitlinie für Patienten mit Down-Syndrom und Leukämie geben. Trotzdem werden wir sie auf der Basis der kollektiven Erfahrungen behandeln."

Prof. Dr. Bernhard Wörmann

Prof. Dr. Bernhard Wörmann, Medizinischer Leiter in der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und medizinische Onkologie (DGHO), sprach zum Thema "Die Idee überregionaler Tumorboards und datengestützter Wissen generierender Versorgung": "Ich habe Anfang der 90er Jahre in Göttingen die ersten Tumorboards eingerichtet. Da war es nicht selbstverständlich, dass der Urologe mit dem Strahlentherapeuten und dem Pathologen über die richtige Therapie spricht – es behandelte der, der den Patienten zuerst sah. Heute sind Tumorboards Standard. Die Charité macht pro Woche 27 Tumorboards, mehrheitlich standardübergreifende und überregionale. Eine Reihe von Studien zeigt: Die Prognose für einen Patienten ist besser, wenn sein Fall vor der Therapie im Tumorboard besprochen wurde. Doch wie gut sind die Entscheidungen? Wird die Empfehlung aus dem Tumorboard umgesetzt? In Bonn hat man das untersucht: Zu ungefähr 80% werden Entscheidungen umgesetzt oder zum Teil umgesetzt. Der wichtigste Aspekt bei den verbleibenden 20%: Der Arzt, der den Tumorboardbeschluss umsetzen soll, tut es in 28% der Fälle nicht, weil er mehr Informationen hat als die Tumorkonferenz – ihr lagen nicht alle relevanten Daten für eine Entscheidung vor. Ich glaube, dass man viel verbessern kann, wenn man das ändert. Das ist heute – Stichwort digitale Vernetzung – problemlos möglich, zum Beispiel als Datenblatt eines Patienten, das auch Hinweise zur Komorbidität, zum körperlichen Zustand des Patienten, seine medizinische Geschichte und anderes enthält.
Nicht jedes Tumorboard muss überregional sein. Aber wir müssen dafür sorgen, dass es sie gibt. Denn wir müssen nicht nur mehr Wissen in die Tumorkonferenz bringen, sondern auch ein Stadt-Land-Gefälle und damit eine Altersdiskriminierung vermeiden. Patienten sollen nicht alle in die Charité zur Behandlung kommen, sondern müssen vor Ort qualifiziert behandelt werden – für die Therapieentscheidung und auch bei Komplikationen. Das ist die Aufgabe überregionaler Tumorboards und von Netzwerken, in denen wir alle Patienten versorgen können. Daneben brauchen wir aber das Spezialistentum, beispielsweise für seltene Fälle, das überregional zur Verfügung steht. Plakativ gesagt: Je seltener und innovativer der Therapieansatz ist, umso überregionaler muss er sein.
Wie sieht die Zukunft aus? Ich möchte das an einem Beispiel erläutern: Es wird nie eine Leitlinie für Patienten mit Down-Syndrom und Leukämie geben. Trotzdem werden wir sie behandeln, und wir müssen deren Daten erfassen. Wir müssen alle Daten, die generiert worden sind, analysieren und überregional zurück ins System einspeisen. Das ist das, was wir Wissen generierende Versorgung nennen und was die Zukunft sein muss."

Andreas Weschke: "Die ePA-Anforderungen sind mit allen Sektoren der Selbstverwaltung abgestimmt – das ist ein hohes Gut und sichert Akzeptanz."

Andreas Weschke

Andreas Weschke, Projektleiter elektronische Patientenakte bei der gematik Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH, sprach zum Thema "Chancen einer sektorübergreifenden Patientenakte: heutige und zukünftige Nutzenpotenziale der durch die gematik spezifizierten elektronischen Patientenakte": "Die gematik arbeitet bei der elektronischen Patientenakte – kurz ePA – auf Basis von gesetzlichen Regelungen, vor allem dem Paragrafen 291a SGB V. Wir bringen kein Produkt auf den Markt, sondern wir legen die Anforderungen fest, die notwendig sind, damit Aktensysteme nicht nur sicher, sondern auch untereinander interoperabel sind. Bis zum 31.12.2018 wollen wir alle erforderlichen Maßnahmen umgesetzt haben, so dass Industrieunternehmen dann auf Basis unserer Anforderungen ihre Lösungen entwickeln und bei uns zur Zulassung einreichen können. Dieser geht eine Zertifizierung des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) voran. Die zugelassenen elektronischen Patientenakten basieren auf Anforderungen, die mit allen Sektoren der Selbstverwaltung abgestimmt sind – das ist ein hohes Gut und sichert Akzeptanz.

Neben dem SGB V haben sich aus dem Gesetzentwurf des Terminservice- und Versorgungsgesetzes im Sommer dieses Jahres weitere Aspekte für die ePA ergeben. Es ist geregelt, dass der Versicherte volle Souveränität über alle Daten in der ePA hat. Außerdem dürfen Krankenkassen zwar nicht auf die ePA zugreifen, nun aber auch Dokumente einspeisen. Das sind wichtige Änderungen, auf die wir bereits mit entsprechenden technischen Lösungen reagiert haben. Für ein flächendeckendes Netzwerk mit der ePA als Dreh- und Angelpunkt ist alles bereit. Dabei gibt es zwei große Nutzergruppen: die Versicherten und die Leistungserbringer. Die Versicherten bekommen – wenn sie es möchten – einen lebenslang verfügbaren zentralen und sicheren Speicherort für Daten und Dokumente. Der Versicherte soll Daten sammeln, strukturieren, teilen, Zugriffsrechte vergeben und ein bundesweites Verzeichnis aller Leistungserbringer nutzen können.

Alle gesetzlich vorgesehenen Leistungserbringer sind an die Telematikinfrastruktur angebunden und können mit der Akte arbeiten, und zwar in ihrer gewohnten Softwareumgebung, also mit wenig Arbeit im Handling und in der Datenübertragung. Der sektorenübergreifende sichere Informationsfluss, auch unter den Leistungserbringern, ist gewährleistet. Zuvor muss der Versicherte den Leistungserbringer aber dafür berechtigt haben.

Aus dem sehr guten Status quo ergeben sich bereits neue Aufgaben- und Themenbereiche, welche jetzt diskutiert werden sollten. Ärzte brauchen als Grundlage ihrer Behandlung eine möglichst vollständige Akte, aus der keine Dokumente oder Daten entfernt wurden oder die gesperrt sind. Eine Lösung dafür wären beispielsweise leistungserbringergeführte Module, etwa ein Diabetes-Modul oder ein Onkologie-Modul. Der Patient würde dann seine Einwilligung erteilen, dass Ärzte dieses Modul für ihn führen. Zieht der Patient seine Einwilligung zurück, schließt sich das gesamte Modul, nicht nur einzelne Dokumente. Für die Ärzteschaft wäre das hochinteressant, um vollständige und qualitätsgesicherte Akten zu haben. Außerdem werden noch Regelungen und Mechanismen für den Austausch großer Datenmengen gebraucht, zum Beispiel bei einer Genomsequenzierung. Momentan können diese Daten nicht in die Akte eingestellt werden. Darüber hinaus steht noch die Einbindung weiterer, an der Behandlung beteiligter Akteure im Fokus. Im Gesetz sind diejenigen festgelegt, die auf die ePA – nach Freigabe durch die Versicherten – zugreifen dürfen. Pflege, Krankenkassen und Forschung dürfen es demnach nicht. Für welche Berufsgruppen außerhalb der gesetzlich definierten wäre es aber noch sinnvoll – auch aus Sicht des Versicherten –, dass sie auf die ePA zugreifen dürfen? Das muss vom Gesetzgeber in Abstimmung mit der Selbstverwaltung des Gesundheitswesens geklärt werden. Und nicht zuletzt geht es um die Rechtevergabe:  Wie detailliert muss sie sein, damit sie für alle Seiten funktioniert? Auch das müssen wir noch erarbeiten."

Katina Sostmann: "Das Missverständnis der Digitalisierung: Es wird viel ‚elektronisiert‘, aber nicht digitalisiert."

Katina Sostmann

Katina Sostmann, Produkt- und Servicedesignerin bei der IBM-Tochter und Leiterin des dortigen Clusters Digital Health and Insurances, sprach zum Thema "Analoge Welten digitalisieren, Herausforderung für die elektronische Patientenakte". Neben der Vorstellung der IBM-Plattform, die derzeit aufgebaut wird, erläuterte sie den digitalen Wandel an ausgewählten Beispielen: "Die Zahl klinischer Studien steigt – aber wie macht man sie zugänglich, und zwar so, dass der Nutzer sicher sein kann, dass er immer die relevanten Daten zur richtigen Zeit bekommt? Dafür brauchen wir eine Antwort. Das heißt – und das ist der digitale Wandel: Wir müssen es schaffen, dass diese Daten verfügbar gemacht sowie auf Knopfdruck Übersicht und Sinn herausgearbeitet werden – verständlich für den Bürger, nutzbar für Experten. Das fördert bessere Diagnosen und Therapien, Verhaltensänderungen und Gesundheitskompetenz bei Patienten, Behandlung auf Augenhöhe durch eine gestärkte Entscheidungskompetenz beim Patienten. Das senkt die Kosten, weil Prozesse automatisiert sind und Dokumentationslasten entfallen. Forschung könnte den gesamten Alltag eines Menschen begleiten. Ich spreche immer gern vom Missverständnis bei der Digitalisierung: Es wird viel ‚elektronisiert‘, aber nicht digitalisiert. Ein digitaler Impfpass ist nicht einfach eine Datei mit einer Liste von Impfungen, sondern ist mit der Ständigen Impfkommission verbunden und informiert mich über neue oder geänderte Empfehlung. Er sagt mir aber auch, ob ich Impflücken habe, wann Impfungen fällig werden und welche davon zuerst. Ein digitalisiertes Medikamentenrezept erinnert mich dreimal am Tag an die Einnahme und sagt mir, wann die Packung alle ist. Das sind Potenziale der Digitalisierung. Dahinter stehen Plattformen, Module, Applikationen, die durch eine standardisierte Infrastruktur für den Informationsaustausch verbunden sind – ohne Insellösungen. Neben Vernetzung und Standardisierung ist es aber auch wichtig, Informationen strukturiert und laienverständlich für Patienten sowie expertenrelevant für Leistungserbringer aufzubereiten. Das Stichwort ist Mehrwert. Darauf basiert auch die Plattform, die wir bei IBM aufbauen als eine Art Betriebssystem des Gesundheitswesens. Sie hat nicht nur eine ePA-Funktionalität bei Krankheit, sondern bietet auch Services und Assistenzen für ein gesünderes Leben, wenn ich zum Beispiel auch Alltagsdaten einspeise. Unsere Leitgedanken sind: Der Mensch ist im Mittelpunkt. Man muss beobachten, lernen und weiterentwickeln. Und: Alle arbeiten mit allen zusammen. Wir haben im Gesundheitswesen viel zu lange aus der Systemsicht gedacht. Das ändert sich im Zuge der Digitalisierung: Die Perspektive der Nutzer steht im Mittelpunkt der Entwicklungen."

Christian Klose: "Die elektronische Patientenakte muss Versorgungsrelevanz generieren. Ansonsten hat sie das Thema verfehlt."

Christian Klose

Die politische Einordnung des Themas übernahm Christian Klose, stellvertretender Leiter der Abteilung Innovation und Digitalisierung im Bundesministerium für Gesundheit: "Wir haben im BMG aktuell vier Handlungsfelder in Sachen Digitalisierungsgestaltung: zum einen den Ausbau der Telematikinfrastruktur voranzutreiben und weiterzuentwickeln sowie die Verpflichtung für die Kassen, 2021 die elektronische Patientenakte einzuführen. Das zweite Thema ist der Marktzugang für Innovationen. Diesen müssen wir beschleunigen, damit Innovationen für eine bessere Versorgung schneller zur Verfügung stehen. Und das dritte Handlungsfeld ist die Förderung der Telemedizin, zum Beispiel Telekonsile, Videosprechstunden oder das eRezept. Viertens beschäftigen wir uns mit der Thematik der Standardisierung von Daten und deren Interoperabilität zur Nutzung für die Versorgung und Forschung. An diesen Themen arbeiten wir mit Hochdruck, um sie im kommenden Jahr in ein Gesetzgebungsverfahren zu bringen.
Im Rahmen der Hightech-Strategie der Bundesregierung haben wir als BMG zwei konkrete Missionen auf die Agenda gesetzt: Zum einen die Nationale Dekade gegen den Krebs – wir wollen stärker in die Krebsversorgung investieren. Wir werden gemeinsam mit Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft und allen Akteuren des Gesundheitssystems darauf hinarbeiten, dass Menschen mit Krebs länger und besser leben können und gleichzeitig die Krebsneuerkrankungen zurückgedrängt werden. Die weitere Mission der Hightech-Strategie ist die forschungskompatible Patientenakte.
Aus meiner Perspektive ist die Vernetzung der Leistungserbringer über Sektorengrenzen, wie sie durch Digitalisierung möglich ist, die Grundvoraussetzung für eine deutliche Qualitätsverbesserung der Behandlung. Ein Beispiel für Informationsdefizite: Wir haben, wenn wir über Arzneimitteltherapiesicherheit reden, pro Jahr ca. 20.000 Menschen, die an den Folgen von Über-, Untermedikation oder Wechselwirkungen sterben. An den Folgen von Verkehrsunfällen sterben ca. 3.250. Das sind immer noch 3.250 zu viel. Wenn wir uns aber anschauen, wie viel Richtiges und Wichtiges wir für die Verkehrssicherheit tun, aber wie wenig wir für das Thema Arzneimitteltherapiesicherheit tun, dann haben wir aus meiner Sicht eine Schieflage. Das müssen und werden wir angehen. Stichwort: Informationsverfügbarkeit. Die müssen wir aufbauen, und sie muss für alle Anwendungsszenarien funktionieren, unabhängig von der Entität und dem Schwergrad einer Erkrankung.
Digitalisierung verändert unsere Gesellschaft und wird auch deutlich stärker als bisher das Gesundheitswesen verändern. Es ist keine Frage, ob wir das Thema Digitalisierung gut finden oder nicht. Es passiert eben – auch im Gesundheitswesen. Mit unserer Regulatorik wollen wir dies für eine bessere Versorgung unter anderem deutlich dynamisieren. Es gibt in Deutschland zahlreiche sehr gute Leuchtturmprojekte, die wir stärker in Versorgungsketten einbetten und in die Fläche bringen müssen. Unsere Aufgabe ist es, so zu steuern, dass Digitalisierungsangebote letztlich allen zur Verfügung stehen und dass es eben nicht am Ende des Tages etwas ist, was nur im Bereich Lifestyle angeboten wird. Auch die elektronische Patientenakte ist kein Marketinginstrument. Sie muss Versorgungsrelevanz generieren. Ansonsten hat sie komplett das Thema verfehlt. Ich bin überzeugt, dass unsere Aktivitäten die Digitalisierung mit dem Ziel der Steigerung der Qualität der Versorgung in Deutschland deutlich voranbringen."

Bart de Witte: "Wenn wir die IT-Budgets in deutschen Krankenhäusern mit dem Ausland vergleichen, dann sehen wir: Wir sind in der Digitalwüste."

Bart de Witte

Bart de Witte, Director Digital Health bei IBM Deutschland, mahnte in der abschließenden Podiumsdiskussion eine stärkere Fokussierung des Gesundheitswesens auf die Digitalisierung und ein positiveres Herangehen an: "Die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen zeichnet sich durch eine träge Entwicklung aus. In Österreich und in der Schweiz ist das ähnlich. Währenddessen entwickeln sich andere Bereiche zügig weiter: Bei der mobilen Telefonie haben wir beispielsweise bei 2G-Technologie angefangen, jetzt sind wir bei 5G. Da sieht man eine deutliche Entwicklung. Technologie ist kein statisches Element, sie ändert sich ständig. Da braucht es eine Organisation, die die technologischen Veränderungen mit anführt.
Alle reden über Hausaufgaben, die zu tun sind, vor allem im Krankenhausumfeld. Man muss aber auch klar benennen, wer seine Hausaufgaben machen muss und welche das sind. Wenn wir die IT-Budgets in Deutschland mit dem Ausland vergleichen, dann sind wir in der Digitalwüste. Die deutschen Krankenhäuser wenden von ihren Gesamtbudgets lediglich 1,6 bis 1,8 Prozent für die Digitalisierung, für IT-Projekte auf. In den Niederlanden sind es 6 bis 8 Prozent, in Dänemark 10 Prozent. Ich weiß nicht, woran das liegt, dass man 1,8 Milliarden Euro für ein neues Krankenhaus ausgibt, und das IT-Budget liegt bei 23 Millionen. Ob diese Verhältnisse richtig sind? Die Zukunft liegt ja nicht in einem neuen Krankenhausgebäude, zumindest nicht nur.
Ein anderes Thema, das mich wundert, sind die Negativmeldungen in der Presse über digitale Projekte. Oft sind diese Aussagen nicht wissenschaftlich, es wird lediglich weitergesagt, was jemand irgendwo gesagt hat, pauschal und verkürzt. Wir haben ein Produkt Watson in der Onkologie, das angeblich nicht funktioniert. Es gibt inzwischen 45 publizierte Studien, in welchen Ländern es zu trotzdem zu funktionieren scheint. Man muss genauer hinsehen und differenzieren: In der Onkologie prüft Watson Leitlinien und gibt Behandlungsempfehlungen. Aber Leitlinien sind pro Land unterschiedlich. Deshalb habe ich in den USA bei einem Test im Memorial Sloan Kettering eine Concordance Rate von 99 Prozent, aber in Dänemark nur 56 Prozent. Weil die Leitlinien unterschiedlich sind. Das liegt nicht an der Technologie, das liegt nicht am Produkt. Technologie funktioniert. Es bringt niemanden voran, wenn man Digitalanwendungen, auch wenn sie erste Schritte sind, auch wenn etwas nicht auf Anhieb funktioniert, sofort in Frage stellt."

 

Die Berichte der anderen Referenten folgen.

Referenten

Dr. Johannes Bruns (Generalsekretär der DKG, Berlin); Christian Klose (ständiger Vertreter der Abteilung 5 "Digitalisierung und Innovationen" im BMG, Berlin); Prof. Dr. Reinhold Schäfer (stellvertretender Direktor - Translationale Forschung - Charité Comprehensive Cancer Center, Berlin); Katina Sostmann (Executive Director Aperto GmbH, Berlin); Dr. Bernd‐Rüdiger Suchy (Gründer Home Care Berlin e. V.); Andreas Weschke (Projektleiter elektronische Patientenakte bei der gematik - Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte mbH, Berlin); Bart de Witte (Director Digital Health IBM DACH); Prof. Dr. Bernhard Wörmann (Medizinischer Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und medizinische Onkologie - DGHO, Berlin)

Moderation: Lisa Braun und Antje Hoppe

Fotos: Renate Babnik/DKG