Nutzung versorgungsnaher Daten

 

Brennpunkt Onkologie vom 08.09.2020: Die Nutzung von Registerdaten für Forschung, Versorgung und Nutzenbewertung. Was ist möglich, was nicht?

Einleitung

Mit der öffentlichen gesundheitspolitischen Diskussionsrunde "Brennpunkt Onkologie" am 08.09.2020 sind wir in die politische und medizinische Diskussion um die Nutzung von versorgungsnahen Daten aus der Sicht der Onkologie eingestiegen. Schon lange bewegt uns als Fachgesellschaft die Frage, wie Erkenntnisse aus der Versorgung optimal in die Verbesserung der Behandlung von Krebspatient*innen einfließen können. Neben den klinischen Krebsregistern in den Ländern erhebt auch die Deutsche Krebsgesellschaft im Rahmen ihres Zertifizierungsprogramms in der "OncoBox Research" Daten aus der Versorgung der Patient*innen in den Zentren. Wir sind deshalb beim Brennpunkt nicht nur darüber ins Gespräch kommen, wie anwendungsbezogenen Daten in der Nutzenbewertung berücksichtigt werden können, sondern auch, welche Bedeutung Registerdaten für die Forschung, die Versorgung und die Entwicklung von evidenzbasierten Leitlinien haben.

Dr. Johannes Bruns: "Datengenerierung hat immer die gleiche Quelle: Es sind die Patient*innen."

Dr. Johannes Bruns, Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft
Quelle: Renate Babnik

Dr. Johannes Bruns, Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft, eröffnete die Diskussionsrunde: "Wir sprechen heute über ein Thema, was uns ständig umtreibt. Auch uns als Fachgesellschaft, weil es darum geht, die Patientenversorgung besser zu gestalten und entsprechend gute Entscheidungen zu treffen. Es geht um das Gut Daten als Voraussetzung dafür. Wo finden wir dieses Gut? Wir haben zum einen Studienergebnisse, die wir nutzen können. Das sind in der Regel Daten aus sehr normierten Behandlungssituationen, zum Beispiel bei der Arzneimittelzulassung. Wir haben auf der anderen Seite aber auch ganz viele Daten, die bei der regulären Behandlung gesammelt werden, beispielsweise in Registern. Sie versuchen, so gut wie möglich Versorgung abzubilden, um daraus Erkenntnisse für zukünftige Behandlung zu gewinnen. Die dritte Form der Datenerhebung ist ein unstrukturierter Prozess: Das ist das, was jede Ärztin und jeder Arzt im Leben an Erfahrungen sammelt. Das steht nicht mehr zur Verfügung, sobald jemand seine Tätigkeit beendet oder in den Ruhestand geht. Es geht bei der Frage neben der Qualität von Daten also auch um Nachhaltigkeit und Verfügbarkeit bei der Datengenerierung. Das sind sehr unterschiedliche Dinge. Wir wissen aber bei allen Formen der Datengenerierung, dass die Datenquelle immer die gleiche ist: Es sind immer Patient*innen.
Das Thema Daten umfasst aber noch mehr, nämlich die Auswertung und die Interpretation von Daten – Stichwort Leitlinien. Letztlich müssen Ärzt*innen die Möglichkeit zu einem datenbasierten Entscheidungskontext haben. Nicht zuletzt geht es auch darum, im Nachhinein sehen zu können: Waren die Entscheidungen sinnvoll? Waren sie gut? Was muss man grundsätzlich ändern? Wo gibt es Datenlücken? Wir sprechen hier über eine Schleife, über Wissen generierende Versorgung, die wir realisieren müssen. Was wir tun, muss kontrolliert, überprüft und angepasst werden, um die Versorgung von Patient*innen künftig noch besser zu machen."

Dr. Thomas Kaiser: "Wie kann und sollte die Registerlandschaft weiterentwickelt werden, damit man auch das Ziel, mit Registerdaten gute Evidenz zu schaffen, auch tatsächlich erreichen kann? Das haben wir uns angesehen."

Dr. Thomas Kaiser vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)
Quelle: Renate Babnik

Dr. Thomas Kaiser, Ressortleiter Arzneimittelbewertung im unabhängigen Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), gab einen Einblick in den Rapid Report und dessen Erstellung: "Wir haben, das wissen die meisten von Ihnen, im letzten Jahr den Auftrag bekommen einen Bericht zum Thema Nutzung versorgungsnaher Daten zu machen. Anfang 2020 haben wir den Rapid Report vorgelegt, eine wissenschaftliche Ausarbeitung zu den Qualitätsanforderungen versorgungsnaher Daten. Hierfür analysierten wir Orphan Drugs, die der Gemeinsame Bundesausschuss zwischen 2014 und 2018 bewertet hatte. Fazit: Bislang war die Quantifizierung des Zusatznutzens nur möglich, wenn RCTs vorlagen. Aber auch von den vorgelegten RCTs waren nur etwa 40 Prozent dafür geeignet. Außerdem fehlten regelhaft Daten zur Kontrollgruppe, und Evidenzlücken zeigten sich in allen Endpunkten. Unter Einhaltung bestimmter Qualitätsanforderungen könnten Registerdaten hier die Erkenntnislücke schließen. Im Rapid Report gibt es bei den Anforderungen an die Registerqualität nur einen Punkt der ausschließlich arzneimittelspezifisch ist. Was wir im Report beschrieben haben, kann gleichermaßen auf Fragestellungen angewandt werden, die nicht Arzneimittel betreffen. Wir haben uns im Zusammenhang mit dem Rapid Report zusätzlich sehr intensiv mit Registern beschäftigt. Wie kann und sollte die Registerlandschaft weiterentwickelt werden, damit man das Ziel, mit Registerdaten gute Evidenz zu schaffen, auch tatsächlich erreichen kann? Dazu zwei Punkte: Das eine ist Datenschutz. Wir haben mit verschiedenen Registerbetreibern gesprochen. Die sagten uns: Wir haben auf Länderebene ganz unterschiedliche Datenschutzvorstellungen. Was man mit dem Datenschutzbeauftragten festlegt, ist für Klinik A in Ordnung, für Klinik B aber überhaupt nicht. So kann man Datenquellen grundsätzlich kaputt machen oder verhindern. Zudem: Es gibt die Technologieplattform, TNF-Plattform. Alle Registerbetreiber bezeichneten sie als leider völlig unzureichend, zum Beispiel mit Formularen, die offensichtlich mit der Realität wenig zu tun haben. Auch hier liegt Verbesserungspotenzial. Der zweite Punkt ist die IT-Landschaft. Daten kann man so erheben, dass am Ort des Geschehens Ärzt*innen oder anderes medizinische Personal die Daten eingibt. In anderen Situationen versucht man eine etwas höhere Qualität der Datenerfassung, indem man Dokumentare an die Kliniken schickt. Sie übertragen dann teilweise Informationen aus dem Klinik-Erfassungssystem händisch in ihren eigenen Laptop – das ist ein riesiger Aufwand und eine riesige Fehlerquelle. Wir sind also weit entfernt, bei der IT-Landschaft in den Krankenhäusern bei einem Standard zu sein, sowohl was Hardware als auch Software angeht. Und mein letzter Punkt, den ich jetzt machen möchte, ist die Finanzierung. Man kann nicht erwarten, dass die Registerlandschaft eine echte Bedeutung bekommt, wenn man nicht ganz anders Geld in die Hand nimmt, und zwar nicht nur für die Krebsregister, sondern ganz breit gedacht."

"Wir brauchen ein Institut, das Spitzenforschung in der onkologischen Versorgungsforschung betreibt. Nur so werden wir bei Daten und relevanten Fragestellungen für die Versorgung weiterkommen."

Prof. Dr. Thomas Seufferlein vom Uniklinikum Ulm, Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft
Quelle: Renate Babnik

Prof. Dr. Thomas Seufferlein, Ärztlicher Direktor der Klinik für Innere Medizin I am Universitätsklinikum Ulm, Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft, sagte in seinem Vortrag: "Für uns in der Onkologie sind versorgungsnahe Daten in erster Linie Daten aus Registern und Daten aus Zentren. Die generieren wir aus der Versorgung bereits heute. Wir haben sehr gute Voraussetzungen dafür im Gegensatz zu anderen Entitäten: große unabhängige Register, wo Dokumentare gut dokumentieren. Die Herausforderungen dabei – Stichwort Föderalismus oder IT – wurden genannt. Wir haben dann auch noch das Krebsregistergesetz, das die Bereitstellung von Daten für Versorgungstransparenz und Versorgungsforschung gesetzlich als Auftrag der Register festschreibt. Wir haben evidenzbasierte onkologische Leitlinien, die randomisierte Studien recherchieren, auswerten und in Empfehlungen umwandeln. Wir haben auf der anderen Seite die zertifizierten Zentren der Deutschen Krebsgesellschaft mit einer sehr hohen Flächendeckung von 1.500 freiwillig zertifizierten Zentren, einschließlich standardisierter Datenerhebung und jährlicher Auswertung. Wir haben also schon sehr viel, und meiner Meinung nach ist das alles eine komplementäre, nicht konträre Welt. Um nur ein Beispiel zu nennen: In der Leitlinie zur Behandlung von Dickdarmkrebs steht die Empfehlung, dass die angewandte Therapie baldmöglichst postoperativ eingeleitet werden sollte. In den randomisierten Studien wurde die angewandte Chemotherapie innerhalb von acht Wochen eingeleitet. Die Frage der Anwenderseite ist: Welcher Zeitpunkt ist der beste? Die Antwort gibt es in Registern: Je früher ich beginne, umso günstiger für die Patienten: 44 Tage postoperativ ist in etwa die Schwelle. So bekommen wir heraus, was gut und was besser ist. Analog gehen wir mit Daten aus zertifizierten Zentren und Registern um. Mit dem Projekt Oncobox Research können wir valide Informationen für Therapie und Strukturempfehlungen – etwa zu Mindestmengen – bereitstellen. Wir können nicht nur über Krankenhaussterblichkeit sprechen, sondern auch zeigen, dass es zum Beispiel ein tatsächlich besseres medianes Überleben von Patient*innen mit Rektum- und Kolonkarzinomen gibt, wenn sie in zertifizierten Zentren behandelt wurden. Solche Datenkombinationen setzen sich durch. Voraussetzung hierfür ist aber die Vollständigkeit der Daten, die Qualitätssicherung und -prüfung und nicht zuletzt eine klare klinische Fragestellung und Methodik. Diese Daten, diese Real World Data, wie es so schön heißt, oder Versorgungsdaten, komplementieren die randomisiert kontrollierten Studien. Sie ersetzt sie nicht, aber sie ergänzen sich gegenseitig. Wir haben ein großes Potenzial. Wir haben aber auch vieles, was wir an Daten noch gar nicht erheben, weil wir keinen Datensatz dafür generiert haben, zum Beispiel Sequenzierungsdaten. Das heißt, es kommt auch hier eine neue Komplexität auf uns zu, die sich aus Datenmengen und Digitalisierung ergibt. Deswegen appelliere ich an die Politik: Versorgungsforschung hat heutzutage eine enorme Komplexität und muss eine neue Anerkennung und Förderung bekommen. Das ist nicht etwas, was jeder machen kann. Bis vor zehn Jahren war es vielleicht anders. Aber Versorgungsforschung, so wie ich sie verstehe und wie wir es alle verstehen sollten, ist Spitzenforschung. Wir werden bei Daten und ganz relevanten Fragestellungen nur weiterkommen, wenn wir das Niveau anheben. Deswegen brauchen wir nicht nur eine Sammelstelle der Daten, sondern wir brauchen auch ein Institut, das wirklich Spitzenforschung in der onkologischen Versorgungsforschung betreibt. Warum in der Onkologie? Weil wir die Daten schon haben: aus Registern und aus den Zentren. Das heißt, wir in der Onkologie sind einen Schritt weiter und könnten auch als Rollenmodell für andere Bereiche in Deutschland in der Versorgungsforschung fungieren."

Podiumsfazit: "Wir brauchen eine zentrale Stelle zur Versorgungsforschung, die auch übergeordnete klinische Fragestellungen definiert und die Forschung methodisch begleitet, um eine hochwertige Versorgungsforschung zu gewährleisten."

Dr. Bruns, Dr. Kaiser und Prof. Seufferlein auf dem Podium bei der abschließenden Podiumsdiskussion
Quelle: Renate Babnik

Auf der anschließenden Podiumsdiskussion sprach Dr. Johannes Bruns, Generalsekretär der DKG, zusammen mit Dr. Thomas Kaiser und Prof. Thomas Seufferlein über die Möglichkeiten und Grenzen der Nutzung von Registerdaten.
Es herrschte Einigkeit darüber, dass Register – bei guter Qualität – aufgrund ihrer zumeist hohen Fallzahlen und langen Laufzeit aussagekräftig und statistisch valide seien und zur Patientensicherheit beitragen würden. Dabei sei es falsch, einen Gegensatz zwischen Registerstudien und RCTs zu machen, so Dr. Kaiser: "Es gibt Registerstudien, die RCTs sind, und es gebe Registerstudien, die keine RCTs sind." Registerstudien und klinische Studien könnten sich sinnvoll ergänzen. Idealerweise würden gute Studien mit Versorgungs-/Registerdaten das Beste aus zwei Welten zusammenbringen: aus einer methodisch sicheren Perspektive (RCTs) und aus einer Versorgungsnähe. Das wäre das Optimum. Die Qualität der Registerdaten sei immer das Entscheidende, um wirklich ein Versorgungsbild ableiten und Versorgungsfragen auch prospektiv beantworten zu können. Was speziell die Krebsregister in der Onkologie als Plattform-im-Aufbau angehe, werden heute zwar Daten erhoben, aber dann keine Konsequenzen gezogen, um die onkologische Versorgung zu verbessern. Deshalb sei es wichtig, ein Forschungsinstitut zu haben, das mit diesen Krebsregisterdaten adäquat forscht und auch die Möglichkeit hat, Impulse zu geben, wie man Datensätze verändern müsse. Klinische Krebsregister würden automatisch besser werden, so Dr. Bruns, wenn ihre Bedeutung wachsen würde. Die Struktur der Krebsregister an sich sei eine sehr gute Plattform für künftige Entwicklungen, auch wenn föderale Hindernisse manches ausbremsten. In der aktuellen Phase gebe es niemanden, der ähnlich gute Basiseigenschaften mitbringen würde.
Die Daten der Deutschen Krebsgesellschaft aus den zertifizierten Krebszentren seien beeindruckend und qualitativ hochwertig, werden aber nur für diese speziellen Zentren erfasst. Eine Idee wäre es, wie im RABBIT-Register spezielle Studienzentren zu etablieren. In den Fokus müsse darüber hinaus auch die Frage genommen werden, wie 200.000 Ärzt*innen außerhalb von Zentren motiviert werden könnten, eine Dokumentarleistung mit hoher Qualität zu erbringen, auch wenn sie das gesetzlich weder strukturiert noch digitalisiert machen müssen. Einzelmotivationen reichten da nicht, das sei eine Forschungs- und Entwicklungsaufgabe im Krankenversicherungssystem als Verbund – und das gehe nur mit Investitionen, zum Beispiel in Dokumentare. Die Politik sollte stärkere Anreize für eine gute Datenerhebung schaffen. In der Diskussion sprachen sich die Referenten gemeinsam für eine zentrale Stelle zur Versorgungsforschung aus, die auch übergeordnete klinische Fragestellungen definiert und die Forschung methodisch begleitet, um eine hochwertige Versorgungsforschung zu gewährleisten.

+++telegramm+++ zum "Brennpunkt Onkologie"

Referent*innen

  • Dr. Thomas Kaiser, Ressortleiter Arzneimittelbewertung im unabhängigen Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)
  • Prof. Dr. Thomas Seufferlein, Ärztlicher Direktor der Klinik für Innere Medizin I am Universitätsklinikum Ulm, Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft
  • Moderatorin: Lisa Braun (PAG - Presseagentur Gesundheit)

Fragen aus dem digitalen Vorzimmer

  1. Welche Rolle spielen Registerauswertungen bei der Leitlinienerstellung?
  2. Können Krebsregister auch für die Nutzenbewertung eine Rolle spielen?
  3. Sind nicht die Versorgungsdaten die echten Daten der Patientenversorgung? Gibt es einen Ersatz für Versorgungdaten, bzw. können Registerdaten Versorgung abbilden?
  4. Routinedaten werden oft nicht mit der erforderlichen Sorgfalt erfasst (Personalnot, Desinteresse usw.). Wie können exakte wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden, wenn Unterschiede zwischen Gruppen klein sind und die Fehlerquote im Verhältnis dazu zu groß?(1)
  5. Sind Patientendaten aus unterschiedlichen Kliniken überhaupt vergleichbar? (Analogie zum Referenzbereich bei Labordaten)
  6. Ist der §35 a SGBV mit der anwendungsbegleitenden Datenerhebung ein sinnvoller Einstieg in die Wissen generierende Versorgung oder doch ein weiteres Instrument der Reglementierung?
  7. Warum stehen die Ein- und Ausschlusskriterien der Zulassungsstudien nicht auch in der Zulassung selbst?

(1) siehe dazu Publikation: Winzer K-J, Schleiz W, Reiter A: Operative axilläre Diagnostik beim DCIS –Sonderauswertung der BQS-Daten 2008. Senologie 2010; 7: 218-222http://dx.doi.org/10.1055/s-0030-1247429 . Derartige Studien werden leider kaum publiziert oder nicht angenommen. Wie wollen Sie dieses Problem (sorgfältige Datenerhebung) lösen oder sind Routinedaten für eine Auswertung nicht verwendbar?