Geriatrische Onkologie

 

Brennpunkt Onkologie vom 29.05.2013: Geriatrische Onkologie – Ist die Onkologie mit der Geriatrie überfordert?

Ohne Zweifel wird die Zahl der Hochbetagten in den nächsten Jahren weiter anwachsen. 2012 wurde deshalb das Motto „Gesund älter werden“ zum nationalen Gesundheitsziel erklärt. Zwar sind in Deutschland mittlerweile rund 1.400 Geriater tätig, und die Zahl geriatrischer Betten stieg in den Jahren 2006 bis 2011 auf 13.000. Leider findet sich im sechsten Altersbericht wenig zum Thema Onkologie, obwohl das onkologische Mammut-Projekt der letzten Jahre, der Nationale Krebsplan, auch mit demografisch bedingten steigenden Inzidenzen begründet wurde. Vernachlässigen wir also das Alter in der Krebsbehandlung? Und wie viel Geriatrie müssen Onkologen heute beherrschen? Dieser Frage gingen die Diskussionsteilnehmer bei der Brennpunkt-Veranstaltung der Deutschen Krebsgesellschaft am 29. Mai 2013 nach.

Multimorbiditäten bestimmen die altersgemäße Behandlung

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: „Jedes Jahr steigt der Altersdurchschnitt unserer Patienten um drei Monate“, so der Krebsmediziner Stephan Schmitz, Vorsitzender des Berufsverbandes der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen (BNHO) auf der Veranstaltung. „Wir haben auf jeden Fall gelernt, dass wir geriatrisches Know-how in der Onkologie brauchen.“ Neben der objektiven medizinischen Seite zählt aber auch die subjektive Einschätzung der Erkrankung durch den Patienten selbst, betonte der Hamburger Arzt und Psychiater Klaus Dörner. Der 80-Jährige, der selbst vor zehn Jahren an Krebs erkrankte, gab zu bedenken, dass er bei einem erneuten Krebsleiden jetzt sehr viel genauer überlegen würde, welche Behandlungsmethoden und welche belastenden Nebenwirkungen er auf sich nähme. „Ich käme möglicherweise zum Schluss, dass ich ohne diese Behandlungen etwas früher sterbe. Das wäre aber in meinem Lebensalter so auch in Ordnung.“

Was bedeutet also eine altersgemäße Behandlung? Vor allem Multimorbiditäten mit ihren Folgen machen das Thema Geriatrie zu einer hochindividualisierten Medizin. Zu den alterstypischen Komorbiditäten zählen unter anderem Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Hypertonie, chronisch obstruktive Atemwegserkrankungen, Diabetes und Demenzerkrankungen. Dazu kommen soziale Veränderungen und altersbedingte Veränderungen, zum Beispiel der Nierenfunktion, die per se keine Krankheit darstellen. Dabei spielen Komorbiditäten für das Überleben der älteren Patienten und auch für die Verträglichkeit einer Therapie eine entscheidende Rolle. „Bei der Versorgung dieser Patientengruppe zählt nicht das chronologische, sondern das biologische Alter“, erklärte die Geriaterin Elisabeth Steinhagen-Thiessen vom Evangelischen Geriatriezentrum der Charité in Berlin.

Geriatrisches Assessment – der Schlüssel zur optimalen Therapie

Als Grundlage für die Therapieentscheidung, Prognose und Nachsorge beim älteren Menschen fordert Geriaterin Elisabeth Steinhagen-Thiessen deshalb den konsequenten Einsatz eines geriatrischen Assessments. Geprüft werden sollten Altersfähigkeiten, Mobilität, Kognition, die emotionale Grundstimmung, die Umgebung des Patienten und seine soziale Lage. Ein solches Assessment wird mittlerweile von den nationalen und internationalen Fachgesellschaften als Bestandteil einer sorgfältigen Diagnostik bei alten Patienten mit Krebserkrankung empfohlen. Die tatsächliche Integration sei aber die Ausnahme und nicht die Regel, mahnte auch Ulrich Wedding, Palliativmediziner an der Universitätsklinik Jena. Die Definition von Grenzwerten und die Einbindung eines Assessments in diagnostische und therapeutische Algorithmen gehöre zu den wichtigen Aufgaben in der geriatrischen Onkologie.

Dringlich ist laut Onkologe Gunnar Folprecht vom Universitäts KrebsCentrum Dresden auch eine Verbesserung der Evidenzlage in der geriatrischen Onkologie: „Schaut man sich zum Beispiel die Zahlen beim Darmkrebs an, so findet man weniger kurative Operationen; dafür nimmt der Anteil der palliativen Operationen und der Notfalloperationen, gemessen am Gesamtanteil zu. Leider gibt es im Moment keine Studie, die untersucht, wann ein Patient mit vielen Begleiterkrankungen tatsächlich operiert soll und wann es besser ist, die OP zu verschieben.“ Ähnliches gilt auch zum Beispiel für die Frage, wann und für welche älteren Patienten eine adjuvante Chemotherapie beim Darmkrebs angebracht ist. „Ohne randomisierte Studien werden wir bei geriatrischen Patienten nicht weiterkommen.“

Vergütungskonzepte müssen sich den Gesundheitszielen anpassen

Klar ist, dass diese Aufgaben nur lösbar sind, wenn Onkologen und Geriater eng zusammenarbeiten. Dr. Johannes Bruns, Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft, warnte in diesem Zusammenhang vor einem Streit der Fächer um die fachliche Führungsposition: „Es geht letztlich um die Bedürfnisse der Patienten. Das heißt, das interdisziplinäre Konzept der Krebsversorgung muss um den Aspekt ‚Alter’ ergänzt werden, sowohl in der Forschung als auch in der Versorgung.“ Leider ist die geriatrische Versorgung in Deutschland alles andere als einheitlich geregelt. In etlichen Bundesländern findet sie fast zu 100 Prozent akutstationär statt; in anderen gehört sie überwiegend in den rehabilitativen Bereich. Dabei wird die gleiche medizinische Leistung unterschiedlich abgerechnet, je nachdem, ob sie ambulant, teilstationär, stationär oder an Hochschulambulanzen erbracht wurde. „Es geht nicht um eine immer stärkere Fragmentierung der Vergütung. Vielmehr sollten wir erst das Gesundheitsziel definieren und dann darüber nachdenken, welches Vergütungssystem dazu passt. In der Onkologie könnte man z. B. mit Pauschalen arbeiten, die sektorenunabhängig ins Vergütungssystem eingefügt werden“, schlug Jürgen Malzahn vom AOK-Bundesverband Berlin vor. Die Entwicklung neuer Konzepte begrüßte auch Dr. Rolf Koschorrek, Obmann der CDU/CSU-Fraktion im Gesundheitsausschuss des Bundestags. Gerade die Integration der Geriatrie in die Gesundheitsversorgung biete dafür einen guten Einstieg ‒ aufgrund der Multimorbiditäten ist hier eine sektorenkrankheitsübergreifende Zusammenarbeit besonders wichtig. Koschorrek ergänzte, dass die Politik auf konkrete Konzeptvorschläge aus den Reihen der im Versorgungsalltag tätigen Experten angewiesen sei und ein Konsens unter den Leistungserbringern bei der politischen Umsetzung helfen würde. Der Input von Fachgesellschaften wie der Deutsche Krebsgesellschaft ist an dieser Stelle gefordert.

Material zum Brennpunkt vom 27. November 2013

Videointerview mit Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner, Hamburger Arzt und Psychiater:

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